Im umkämpften Donbass haben russische Truppen nach ukrainischen Angaben den Großteil der wichtigen Stadt Sjewjerodonezk eingenommen.
"Stand heute kontrolliert Russland leider über 70 Prozent, jedoch nicht die ganze Stadt", sagte der Gouverneur des Luhansker Gebiets, Serhij Hajdaj, am Montag beim TV-Sender Belsat. Mit der Einnahme des Verwaltungszentrums Sjewjerodonezk hätten die prorussischen Separatisten die Region Luhansk fast komplett unter ihrer Kontrolle.
Im umkämpften Industriegebiet Azot würden sich weiter etwa 500 Zivilisten, darunter etwa 40 Kinder aufhalten. "Wir versuchen, mithilfe von Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk eine Vereinbarung über einen Evakuierungskorridor zu erreichen", sagte Hajdaj. Die Bombenschutzkeller des Chemiewerks Azot seien nicht so stabil, wie die des wochenlang belagerten Stahlwerks Azovstal der inzwischen von Russland eroberten Hafenstadt Mariupol.
Über laufende Verhandlungen über die Evakuierung von Zivilisten aus dem Werksgelände hatten bereits Separatistenvertreter berichtet. Demnach sind außerdem 300 bis 400 ukrainische Soldaten dort eingeschlossen. Hajdaj hatte jedoch die von den Separatisten behauptete Einkesselung mehrfach zurückgewiesen. Unabhängig überprüft werden können die Angaben nicht.
Die Ukraine konkretisierte indes Forderungen nach umfassenden Waffenlieferungen, die sie für einen Sieg gegen Russland benötige. "1.000 Haubitzen vom Kaliber 155 Millimeter, 300 Mehrfachraketenwerfersysteme, 500 Panzer, 2.000 gepanzerte Fahrzeuge, 1.000 Drohnen", schrieb am Montag Präsidentenberater Podoljak auf Twitter. Kiew erwarte dazu vom Treffen der NATO-Verteidigungsminister am kommenden Mittwoch in Brüssel eine Entscheidung. Ein Mangel an schweren Waffen und Munition erschwert nach Angaben aus Kiew die Lage an der mehr als 2.400 Kilometer langen Front zunehmend.
Ungeachtet der schwierigen Lage im Osten definiert die Ukraine weiter eine Niederlage Russlands als ihr klares Ziel. "Wir werden solange kämpfen, bis Russland verliert", sagte Präsidentenberater Mychajlo Podoljak in einem am Montag bei der oppositionellen belarussischen Onlinezeitung Zerkalo erschienenen Interview. Das von Präsident Wolodymyr Selenskyj formulierte Minimalziel sei dabei weiter ein Rückzug der russischen Truppen auf die Linien vom 23. Februar - einem Tag vor Kriegsbeginn.
"Das Maximalziel: die territoriale Unversehrtheit in den international anerkannten Grenzen der Ukraine, eine Niederlage Russlands und dessen Transformation", sagte Podoljak. Andernfalls werde Russland ständig versuchen, den Krieg in neuer Intensität wiederaufzunehmen, meinte er. "Der Krieg wird solange andauern, wie die Ukraine braucht, um zu zeigen, dass Russland sich von unserem Territorium zurückziehen muss."
Nach dem Einmarsch Ende Februar forderte der Kreml von der Ukraine, sie solle die 2014 annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim als russisch anerkennen sowie die ostukrainischen Separatistengebiete Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten. Derzeit kontrolliert Russland etwa ein Fünftel des ukrainischen Territoriums. Vor Kriegsbeginn waren es rund sieben Prozent.
Bei der Abwehr andauernder russischer Angriffe hat die ukrainische Armee eigenen Angaben zufolge inzwischen eine Front von etwa 2.450 Kilometer zu verteidigen. "Davon werden an 1.105 Kilometern aktive Kampfhandlungen geführt", schrieb der Oberbefehlshaber Waleryj Saluschnyj in der Nacht auf Montag bei Facebook nach einem Gespräch mit dem US-General Mark Milley.
An einigen Frontabschnitten seien ukrainische Einheiten auch zu Gegenangriffen übergegangen. Zuletzt gab es Berichte über ukrainische Geländegewinne an der Grenze der südukrainischen Gebiete Mykolajiw und Cherson.
Bei einem ukrainischen Artillerie-Angriff auf einen Markt in der von pro-russischen Separatisten gehaltenen Region Donezk sind nach einem Bericht der dortigen Nachrichtenagentur mindestens drei Menschen getötet und vier weitere verletzt worden. Unter den Toten sei auch ein Kind, meldet die Donezk Nachrichtenagentur. Sie verbreitet Bilder von brennenden Marktständen und einer auf dem Boden liegenden Leiche. Die Nachrichtenagentur berichtet zudem, Teile der ostukrainischen Region seien am Montag von Standard-NATO-Munition des Kalibers 155 Millimeter getroffen worden. Die Angaben lassen sich unabhängig nicht überprüfen.
Russland hat unterdessen nach eigenen Angaben mit Raketenangriffen eine große Menge an Waffen und Militärausrüstung in der Ostukraine zerstört. Dazu gehörten auch einige Rüstungsgüter, die von den USA und Staaten der Europäischen Union an die Ukraine geliefert worden seien, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Die russischen Raketen hätten Ziele nahe dem Bahnhof des Ortes Udatschne im ostukrainischen Donbass getroffen.
Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind nach ukrainischen Angaben mehr als 12.000 Zivilisten umgekommen. Die meisten Opfer seien durch Explosionen getötet worden, sagte der Chef der ukrainischen Polizei, Ihor Klymenko, in einem am Montag von der Agentur Interfax-Ukraine veröffentlichten Interview. 75 Prozent der Getöteten seien Männer, zwei Prozent Kinder und die übrigen Frauen. "Es handelt sich um Zivilbevölkerung, diese Menschen standen in keiner Beziehung zum Militär oder den Rechtsschutzorganen", unterstrich Klymenko. 1.200 Opfer habe man noch nicht identifizieren können.
Mehr als 1.500 Tote wurden nach dem Abzug russischer Truppen Ende März allein im Gebiet um die Hauptstadt Kiew gefunden. Funde von Massengräbern und gefesselten Erschossenen vor allem im Kiewer Vorort Butscha hatten weltweit Entsetzen ausgelöst. Die Vereinten Nationen haben bisher erst 4.300 getötete Zivilisten erfasst.