Geisel-Freilassung

Hamas wird im Westjordanland immer beliebter

Teilen

Freilassung von Palästinensern aus israelischer Haft bringt radikalislamischer Organisation Zuspruch

"Wir sind alle Hamas", ruft die Menge und schwenkt die grüne Fahne der Islamisten. Seit Freitag feiern Menschen in Ramallah im von Israel besetzten Westjordanland Abend für Abend die Freilassung von Palästinensern aus israelischer Haft. Der Austausch von palästinensischen Gefangenen gegen aus Israel verschleppte Geiseln verschafft der radikalislamischen Hamas auch im Westjordanland, das von der rivalisierenden Palästinenserorganisation Fatah regiert wird, wachsenden Zuspruch.

"Ich weiß zu schätzen, was die Hamas getan hat", sagt der 63 Jahre alte Ahmed Abdelaziz bei der Jubelfeier am Sonntagabend. "Zu sehen, wie junge Menschen dank ihres Widerstands aus dem Gefängnis entlassen werden, macht mich überglücklich. Die Freude ihrer Familien, die Mobilisierung der Menschen, bringt mich dazu, die Hamas zu unterstützen."

150 Palästinenser freigelassen

Seit Beginn der Waffenruhe im Gazastreifen am Freitag ließ die Hamas bis Dienstag insgesamt 50 Israelis und 19 weitere Geiseln, überwiegend Gastarbeiter aus Thailand, frei. Im Gegenzug entließ Israel gemäß der Vereinbarung insgesamt 150 palästinensische Häftlinge aus dem Gefängnis, allesamt Jugendliche und Frauen.

Die begeisterte Menge in Ramallah trägt die Freigelassenen jeden Abend seit Freitag auf den Schultern. "Allah stärke den Widerstand", skandieren sie und meinen die Hamas. Überall sind deren grüne Flaggen zu sehen. In Al-Bireh, einem Vorort von Ramallah, haben manche der Feiernden auch die gelbe Fahne der Fatah-Partei von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas dabei.

Doch für Tarek al-Omla, einen der Demonstranten, besitzt die Hamas mehr Legitimität als die Fatah. "Ihr geht es nicht um den eigenen Vorteil, sie handelt im Namen des palästinensischen Volkes, das jeden Tag von israelischen Soldaten und Siedlern angegriffen wird", sagt er und spielt damit auch auf die Korruption in der Palästinensischen Behörde in Ramallah an.

Auf die Gewalt und Grausamkeit der Hamas-Kämpfer gegen Zivilisten in Israel angesprochen, sagt der Demonstrant Jihad Ayukh: "Die Geschichte hat schon vorher begonnen und die eigentliche Frage ist, was Israel vor dem 7. Oktober den Palästinensern angetan hat." Insgesamt etwa 240 Menschen hatten die Hamas-Islamisten bei ihrem brutalen Überfall auf Israel am 7. Oktober in den Gazastreifen verschleppt, etwa 1.200 weitere wurden nach israelischen Angaben ermordet.

Jubelfeiern  

Als Reaktion darauf begann Israel damit, Ziele im Gazastreifen aus der Luft und vom Boden aus massiv anzugreifen. Nach Angaben der Hamas, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, wurden seitdem fast 15.000 Menschen im Gazastreifen getötet.

Die Hamas, die die USA, Israel und die EU als Terrororganisation einstufen, hält immer noch über 170 Geiseln fest, unter ihnen auch israelische Soldaten, die von dem Abkommen zum Austausch ausgeschlossen sind. Sie will diese Gefangenen nutzen, um möglichst viele der mehr als 7.000 in israelischen Gefängnissen inhaftierten Palästinenser freizupressen. 2011 hatte die Hamas den israelischen Soldaten Gilad Shalit nach fünf Jahren Geiselhaft im Austausch gegen mehr als tausend palästinensische Gefangene freigelassen. Einer von ihnen war der Hamas-Führer Yahya Sinwar, der im Verdacht steht, den Angriff vom 7. Oktober geplant zu haben.

Mit den Jubelfeiern zur Freilassung palästinensischer Gefangener wollen die Menschen im Westjordanland nun "den israelischen Behörden die Stirn bieten, die keine Feiern oder Unterstützungsbekundungen für den palästinensischen Widerstand wollen", sagt der Politologe Jihad Harb. "Sollten nach der jetzigen Vereinbarung noch mehr Freilassungen folgen, wird sich die Popularität der Hamas verdoppeln", prognostiziert er.

Der deutsche SPD-Politiker und Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth, sieht ebenfalls Anzeichen für ein Erstarken der Hamas im Westjordanland. "In Teilen der Westbank hat die von Fatah geführte Palästinensische Autonomiebehörde unter Präsident Mahmud Abbas längst die Kontrolle verloren, sie gilt als korrupt, ineffizient und schwach", sagte Roth der "Bild"-Zeitung vom Dienstag.

Wie groß die Unterstützung für die Hamas in der palästinensischen Bevölkerung tatsächlich ist, bleibt unklar. Seit 2006 hat es weder im Gazastreifen noch im Westjordanland eine Wahl gegeben. Damals gewann die Hamas, es begann ein Machtkampf zwischen den Islamisten und der Fatah. Schließlich teilten sich die Kontrahenten die Palästinensergebiete auf. Die Hamas herrscht im Gazastreifen, die Fatah im Westjordanland.

Vor dem Hintergrund der politischen Stagnation, des israelischen Siedlungsbaus, der israelischen Razzien im Westjordanland und der Normalisierung der Beziehungen Israels mit mehreren arabischen Ländern gewinnt die Hamas aber an Attraktivität. Sie hat mit ihrem brutalen Angriff auf Israel die Palästina-Frage wieder auf die internationale Tagesordnung gesetzt.

Die Palästinenserbehörde in Ramallah scheint der große Verlierer in der derzeitigen Lage zu sein. Palästinenserpräsident Abbas blieb dem Empfang der Gefangenen fern - eine politische Entscheidung, urteilt ein palästinensischer Regierungsvertreter, der anonym bleiben möchte: "Die Autonomiebehörde will nicht mit dem, was die Hamas tut, in Verbindung gebracht werden."

Fehler im Artikel gefunden? Jetzt melden.