Ein umstrittener Vorschlag der kassenärztlichen Bundesvereinigung soll Personalengpässe in Spitälern lösen.
Die Forderung des Vorstandsvorsitzenden der deutschen "Kassenärztlichen Bundesvereinigung", Andreas Gassen, nach einer Aufhebung aller Isolations- und Quarantänepflichten mitten in der Corona-Sommerwelle ist auf Widerspruch gestoßen: "Infizierte müssen zu Hause bleiben. Sonst steigen nicht nur die Fallzahlen noch mehr, sondern der Arbeitsplatz selbst wird zum Sicherheitsrisiko", schrieb der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am Samstag auf Twitter.
Auch Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) kritisierte, der Vorschlag komme zur Unzeit. Andere pflichteten Gassen bei - zumindest bei seiner Einschätzung der derzeitigen Corona-Lage. Denn die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei über 700 - seit einiger Zeit gehen Experten aber von einer deutlichen Untererfassung der tatsächlichen Corona-Fälle aus. Auf den Intensivstationen der Kliniken ist die absolute Patientenzahl derzeit doppelt so hoch wie zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres.
Personalengpässe
Das eigentliche Problem sieht Gassen jedoch nicht in den vielen Infektionen, sondern darin, dass positiv Getestete auch ohne Symptome mehrere Tage zu Hause bleiben müssen, wie der Kassenärzte-Chef der "Neuen Osnabrücker Zeitung" sagte. "Dadurch entstehen die Personalengpässe in den Kliniken und anderswo." Man müsse zurück zur Normalität. "Wer krank ist, bleibt zu Hause. Wer sich gesund fühlt, geht zur Arbeit. So halten wir es mit anderen Infektionskrankheiten wie der Grippe auch."
Planbare OPs verschoben
Auch der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, wies auf Probleme im Zusammenhang mit der Isolationspflicht hin. "Die Belastung steigt stetig, der deutliche Mehraufwand durch die Pflicht zur Isolation nimmt zu", sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe - ohne jedoch ein Abrücken von den derzeitigen Vorgaben zu fordern. Wegen des Ausfalls von Mitarbeitern müssten in zahlreichen Krankenhäusern planbare Operationen verschoben und zeitweise ganze Bereiche abgemeldet werden.
Aus dem deutschen Gesundheitsministerium hieß es, aktuell würde eine weitere Verkürzung der Fristen zu den Möglichkeiten der Freitestung "keinen Sinn" machen. Mit den geltenden Empfehlungen sei im Frühjahr bereits auf sich verschärfende Personalsituationen reagiert worden. Derzeit gilt für die allgemeine Bevölkerung, dass die vorgeschriebene Isolation für Corona-Infizierte nach fünf Tagen enden kann - mit einem "dringend empfohlenen" negativen Test zum Abschluss.
Deutliche Gegenstimmen
Angesichts der "hochdynamischen Infektionslage" sollte man genau überlegen, ob es Sinn mache, die Regeln zur Isolation zu lockern, warnte Bayerns Gesundheitsminister Holetschek: "Im Herbst erwarten wir einen weiteren Anstieg der Infektionszahlen. Niemand weiß, welche Virusvariante dann vorherrschen wird."
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, warf Gassen "Opportunismus" vor. "Die Isolation schützt. Denn so wird verhindert, dass sich andere anstecken." Er verwies auf Long- und Post-Covid - also Beschwerden noch nach mindestens vier und mindetens zwölf Wochen nach der Infektion. Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, sagte der "Rheinischen Post": "Die Aufhebung von Quarantäneregeln aus Arbeitsmarktgründen ist aus ärztlicher Sicht nicht zu vertreten. Unsere Aufgabe ist es, Menschen vor Krankheit, Leid und Tod zu bewahren."
Aber auch Unterstützung der Forderung
Der FDP-Gesundheitsexperte Andrew Ullmann gab Gassen dagegen recht. "Dies ist ein lösungsorientierter Ansatz, um einen klügeren und individuellen Umgang mit Corona-Infektionen zu ermöglichen", teilte er am Samstag mit. "Die Isolierungsdauer von Patienten mit Covid-19 sollte nicht mehr von staatlicher Seite fixiert sein. So können wir zu einer gewissen Normalität und Unaufgeregtheit zurückkehren." Die Isolationsdauer sollte nach Ullmanns Worten künftig eine medizinische und individuelle Entscheidung sein.
Auf Eigenverantwortung setzt auch FDP-Chef Christian Lindner - allerdings mit Blick auf künftige Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. "Es darf in Zukunft nicht mehr flächendeckende, pauschale Freiheitseinschränkungen für alle geben", sagte Lindner den Funke-Zeitungen. "Wir brauchen gezielte Maßnahmen, die möglichst viel gesellschaftliches Leben garantieren und den Menschen möglichst viel Eigenverantwortung belassen."
Zwischen dem Gesundheits- und Justizministerium laufen derzeit Gespräche über die Corona-Maßnahmen, die künftig im Kampf gegen die Pandemie möglich sein sollen. Im September läuft die Rechtsgrundlage für die inzwischen stark eingeschränkten Regeln aus.