Coronavirus

Mediziner: "Ohne Trendumkehr droht Triage in den nächsten Tagen"

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Ohne Trendumkehr, Situation einer Triage in ''nächsten Tagen''.

Wien. Im Vorfeld der Bekanntgabe neuer Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus durch die Bundesregierung haben sich am Samstag Experten an die Bevölkerung gewandt. Laut Susanne Rabady, Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM), ist das heimische Gesundheitssystem "jetzt vollkommen ausgelastet". Klaus Markstaller, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI), warnte vor einer Triage.

Derzeit stehe man genau an der Grenze, sagte Markstaller. Würde keine Trendumkehr gelingen, gäbe es "in den nächsten Tagen die Situation einer Triage", warnte er. Am Freitag befanden sich 567 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, Zahlen vom Samstag lagen am Nachmittag noch nicht vor. Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich (GÖG), prognostizierte bereits für Mitte kommender Woche 700 intensivpflichtige Coronavirus-Erkrankte. Die Lage in den Spitälern spitzt sich weiterhin zu. "Wir wissen, dass einige Bundesländer bereits auf ihr Reservepotenzial zurückgreifen", sagt der GÖG-Geschäftsführer.

Weitere Zeit sei sehr schwer vorherzusehen

Die weitere Zeit sei sehr schwer vorherzusehen, sagte Ostermann. Klar sei, dass es zu einem weiteren Anstieg kommen werde. Denn in den letzten Wochen habe es keine beachtliche Bremswirkung gegeben. Zuletzt hatte es am Freitag mehr als 9.500 Neuinfektionen binnen 24 Stunden in Österreich gegeben. Ostermann prognostizierte einen Anstieg "von 20 bis 30 Prozent im Fallgeschehen". "Wir wissen jedenfalls, die nächsten zwei, drei, vier Wochen werden für das Gesundheitssystem belastend", sagte er.
 
"Wenn das Ganze in den nächsten Tagen in dieser Geschwindigkeit zunehmen sollte, dann kommen wir in die Situation einer Triage", sagte Markstaller. "Wir werden in den nächsten Tagen beginnen müssen - wenn das so weitergeht - , zu entscheiden, in welchem Umfang wir welche Patienten mit Intensivmedizin behandeln können", sagte Markstaller.
 
Die Krankenhäuser hätten sich über den Sommer auf die nunmehrige Situation vorbereitet, "aber die wirkliche Limitation ist das Fachpersonal", sagte Markstaller. Die Behandlungen in Intensivstationen sei komplex. Jahrelange Ausbildung und Erfahrung sei dafür notwendig. "Damit ist diese Ressource per se limitiert", erläuterte der Mediziner.
 
Er verwies darauf, dass unser Gesundheitssystem darauf ausgelegt ist, dass die Intensivbetten normalerweise immer zu 85 bis 90 Prozent belegt sind, weil Intensivmedizin eine "teure Ressource ist". Rund 2.000 Intensivbetten gibt es in Österreich, Schwankungen von zehn Prozent können bereitgestellt werden. Wenn allerdings mehr als ein Drittel der Betten mit Covid-19-Patienten belegt sind - derzeit sind es rund 27 Prozent - beginne die Triage. Dann werden die verfügbaren Betten an Patienten mit der besten Prognose vergeben. "Wenn mehr als 50 Prozent der Betten nicht mehr zur Verfügung stehen, haben wir eine veritable Gesundheitskrise", sagte Markstaller. Aber: Auch wenn jemand nicht auf die Intensivstation käme, werde er nicht vergessen.

Die Situation sei eine "enorme Belastung"

Die Situation sei eine "enorme Belastung". Im Sommer habe man ein "ethisches Papier" geschrieben, die als Hilfestellung in Triage-Situationen dienen könne. Man habe das als Vorsorge getan, in der "Hoffnung, es nicht zu brauchen", berichtete Markstaller. Er betonte, dass für den Fall des Falles keine persönliche oder finanzielle Entscheidung getroffen werden dürfe. "Es muss eine möglichst ethisch nachvollziehbare Entscheidung sein, wen man behandelt", sagte der Experte.
 
Markstaller appellierte an die Bevölkerung, sich an die Maßnahmen zu halten. Einhaltung der Hygienerichtlinien und eine Reduktion der sozialen Kontakte sei unbedingt notwendig - im Interesse aller. "Die Maßnahmen sind unsozial", sagte Markstaller. Allerdings: "Es ist eine Situation, die temporär ist, begrenzt für eine Zeit - wir werden medizinische Lösungen finden". "Offensichtlich ist es nicht gelungen im Sommer, die Ernsthaftigkeit der Erkrankung rüberzubekommen", sagte der ÖGARI-Präsident. Das Virus sei hingegen tückisch und verbreite sich leicht.
 
"Die Seuche ist unter uns", bekräftigte Susanne Rabady, Vize-Präsidentin der Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM). "Das Gesundheitssystem ist wirklich vollkommen ausgelastet" und kann viel mehr nicht mehr aushalten. Die Medizinerin unterstrich die dramatische Situation. Man sei zwar so gut vorbereitet gewesen "wie man nur sein kann", aber das Gummiband würde irgendwann reißen.

"Es müssen die Zahlen jetzt runter"

"Es müssen die Zahlen jetzt runter", sonst werde man das "auf längere Zeit nicht mehr schaffen", warnte die Medizinerin. Sie wies auch darauf hin, dass Erkrankte andere Symptome haben als jene, die oftmals kommuniziert werden. Erste Anzeichen einer SARS-CoV-2-Infektion seien "Gliederschmerzen, Halskratzen, Krankheitsgefühl, Schwäche und Kopfschmerzen." Nicht mal die Hälfte der Infizierten huste oder habe Fieber, sagte Rabady. Verdachtsfälle müssen rasch getestet werden, forderte sie.
 
Sie äußerte auch die Sorge, dass Menschen nicht oder zu spät zum Arzt gehen, wenn sie krank sind. "Covid ist zusätzlich auf der Welt - nicht anstatt", sagte Rabady. Wer krank ist, müsse den Hausarzt kontaktieren - "nicht erst wenn die Geschichte an der Kante ist" und das Risiko bestehe, dass ein Spitalsbett benötigt werde. Auch Menschen mit chronischen Krankheiten müssen auf sich aufpassen, Kontroll- und Vorsorgeuntersuchungen auch in der jetzigen Situation wahrgenommen werden, forderte die Medizinerin.
 
Kommende Woche soll der harte Lockdown verhängt werden, das führte dazu, dass Einkaufszentren und Einkaufsstraßen am Samstag überfüllt waren. Rabady geht es "schlecht", wenn sie auf diese Menschenmassen blickt. "Ich kann nur sagen, dass es - leider - Maßnahmen braucht. Und dass man diese Dinge - leider - nicht der eigenen Entscheidung überlassen kann", konstatierte die Ärztin.
 
Allerdings zeigte sie auch einen Hoffnungsschimmer auf: Die Pandemie werde - so wie jede zuvor - "vorübergehen". Daran hätte aber jeder Einzelne einen "großen Anteil" beizutragen: "Bitte atmen Sie nichts ein, was jemand anderer schon ausgeatmet hat - und tragen Sie Sorge, dass niemand einatmet, was Sie schon ausgeatmet haben", appellierte Rabady.

Stichwort: Triage

Die Coronavirus-Pandemie überfordert derzeit zahlreiche Krankenhäuser bis hin zu ganzen Gesundheitssystemen. Ressourcenknappheit kann zu Rationierungen führen. Tritt die Situation einer Triage ein, müssen Mediziner in der Covid-Krise darüber entscheiden, welche Patienten intensivmedizinisch betreut werden.
 
Der Begriff "Triage" leitet sich von dem französischen Wort "trier" ab, das "sortieren" oder auch "aussortieren" bedeutet. Entwickelt wurde die Triage von dem russischen Arzt Nikolai Pirogow, um im Krimkrieg (1853 bis 1856) mit der hohen Zahl verletzter Soldaten umzugehen. Bis heute wird die Triage in außergewöhnlichen Situationen wie Naturkatastrophen, Unfällen mit zahlreichen Opfern und nach Anschlägen angewendet. Binnen kurzer Zeit werden Patienten nach der Dringlichkeit ihrer Behandlung eingeteilt.
 
Bei einem Mangel an Personal, aber auch Material wie Intensivbetten, Geräte, Medikamente, Masken, Handschuhe etc. sind Beschränkungen erforderlich. Ärztinnen und Ärzte haben dann unter Zeitdruck Entscheidungen zu treffen. "Ethisch/rechtliche Grundlagen müssen dabei, gleich wie unter 'normalen' Bedingungen, Basis ärztlicher Indikationsstellung bleiben", hält die ARGE Ethik der Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) fest.
 
Im Rahmen einer Triage ist nur für diejenigen Patienten eine maximale Therapie indiziert, die im Rahmen einer Schaden/Nutzen-Abwägung durch eine technisch machbare medizinische Behandlung prognostisch eine hohe Überlebenswahrscheinlichkeit haben. "Gleichwertig zum Ziel der Lebenserhaltung muss die Frage nach der künftigen Lebensperspektive und der Vermeidung einer 'Chronisch Kritischen Erkrankung' die Indikationsstellung begründen", heißt es in den Empfehlungen der ARGE Ethik anlässlich der Covid-Pandemie.
 
Betont wird aber: Intensivtherapie darf in der Triage-Situation nur nach Ausschöpfung aller möglichen Alternativen vorenthalten oder beendet werden.
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