Österreichische Medizinerin Carmen Possnig verbrachte 13 Monate in der Antarktis-Station "Concordia" und gibt nun Ratschläge für die Quarantäne.
Wien. Ein Jahr Isolation, monatelang eingesperrt wegen Temperaturen von bis zu minus 80 Grad Celsius und völliger Dunkelheit: Carmen Possnig hat Erfahrung mit einer Situation wie sie viele Menschen derzeit Corona-bedingt ein Stück weit erleben. Die österreichische Medizinerin hat 2018 in der Antarktis-Station "Concordia" geforscht und gibt nun aufgrund ihrer Erfahrungen Tipps für die Quarantäne.
Im Auftrag der Europäischen Raumfahrtagentur ESA hat Possnig in der französisch-italienischen Antarktis-Station "Concordia" u.a. die Auswirkungen von Isolation auf die Crew erforscht. Sie hatte allerdings den Vorteil, sich auf diese Quarantäne-ähnliche Situation vorzubereiten. Zudem mussten alle ihre Kollegen ein intensives Auswahlverfahren durchlaufen. "Selbst nach all diesen Vorkehrungen war die Isolation nicht immer einfach. Es war eine Extremsituation, eine Herausforderung - aber auch eine sehr schöne Zeit. Wir hatten 13 Monate, um Erfahrungen zu sammeln, Fehler zu begehen und uns an den Umgang mit der Isolation zu gewöhnen. Die Auswirkungen auf einen selbst hängen ganz davon ab, wie man mit der Situation umgeht", schreibt die Medizinerin in ihrem Blog.
Possnig sieht die Situationen nicht so unterschiedlich: "Wie viele Menschen derzeit in Europa mussten wir uns in der Antarktis an ungewöhnliche Bedingungen anpassen. Wir mussten täglich mit einem Gefühl der Bedrohung, Gefahr und Ungewissheit umgehen. Wir waren der Monotonie ausgeliefert, kämpften gegen Langeweile, Motivationsverlust und depressive Verstimmungen."
Aufgrund ihrer Erfahrung gibt Possnig in ihrem Blog nun Ratschläge und zeigt Bewältigungsstrategien auf. Schon wie man seinen Tag beginne, habe große Auswirkungen auf die folgenden Stunden. Unter dem Motto "Starten Sie beschwingt in den Tag" rät sie "mit etwas Produktivem" zu beginnen und der Versuchung zu widerstehen, die Morgenstunden auf Facebook, Twitter oder mit Zeitungsartikeln zu verbringen. Wichtig sei auch, den üblichen Tag-Nacht Rhythmus beizubehalten.
Wenn man den Großteil des Tages in der eigenen Wohnung verbringe, sei es einfach, in unproduktive Angewohnheiten zu verfallen. Sie habe sich in der Antarktis-Station daher für jede Woche einen Zeitplan erstellt, jeden Tag in 30 Minuten-Takte unterteilt, und festgehalten, was wann erledigt wird. "Für das Leben in Isolation war das eine hervorragende Motivation, um geplante Aufgaben auch tatsächlich zu erledigen. Man gewinnt ein gewisses Gefühl der Kontrolle und die konsistente Struktur der einzelnen Tage hilft, Ungewissheit zu reduzieren", so Possnig.
Sie rät, all die Stunden, die man plötzlich zur Verfügung hat, zu nutzen. "Die Quarantäne kann in eine Spirale an frustrierenden Internetrecherchen, Serien-Binge-Watching oder zu dunklen Gedankenwelten führen - sie kann aber auch zu einer Zeit werden, in der Sie eine neue Fähigkeit gelernt haben, neue Talente entdecken, endlich eine lange gehütete Leidenschaft ausleben."
Eine Isolationssituation würde sich hervorragend eignen, um neue Fertigkeiten zu lernen bzw. bereits vorhandene zu vertiefen, sei es das Spielen eines Musikinstruments, statistische Rechenmodelle zu verstehen oder eine neue Sprache zu erlernen. Als schönste Art, der Realität und den eigenen Gedanken zu entfliehen, sieht Possnig das Lesen an.
In der Quarantäne sei es "leichter denn je, in Höhlenmensch-ähnliche Zustände zu verfallen" und auf duschen, kämmen, rasieren oder Wäsche waschen zu verzichten. "Persönliche Hygiene beizubehalten steigert sowohl Wohlgefühl als auch Selbstwertgefühl - und wirkt sich positiv auf die Beziehung zu den Mitbewohnern aus", betont Possnig und rät zur Arbeit am Schreibtisch, statt auf dem Sofa zu liegen - auch um eine Unterteilung zwischen Arbeit und Freizeit zu bewirken.
In der Antarktis habe ihr der Abstand zu Internet und Smartphones geholfen. Die fehlende Ablenkungen habe es "viel einfacher gemacht, sich mit vollem Fokus einer Sache hinzugeben". Fixpunkt in der Forschungsstation sei regelmäßiger Sport gewesen - konkret mindestens vier Mal in der Woche ein Besuch im Fitnessraum. "Die Bewegung half, die Perspektive zu wechseln - den ständigen Stress abzubauen, ruhiger und zufriedener zu werden." Überdies habe sie versucht, wann immer es möglich war, nach draußen zu gehen.
Gutes Essen "boostet die Moral", ist sich Possnig sicher, "nichts hat die Gruppe so sehr zusammengeschweißt und uns so sehr aus der Monotonie der Isolation gerissen, wie gemeinsames Kochen und Essen". Dabei sei der Umgang mit den Crewkollegen eine der größten Herausforderungen der Isolation gewesen. Rasch habe sie jeden Witz, jede Anekdote, jede lustige Kindheitserinnerung ihrer Kollegen gekannt. Bei so viel Nähe könnten rasch Spannungen entstehen und im Alltag belanglose Dinge großes Konfliktpotenzial bekommen. Wichtig sei es, Konflikte nicht zu scheuen: "Je früher Sie etwas ansprechen, desto schneller können Sie daran arbeiten, desto weniger belastend wirkt die Sache, und desto kleiner das Risiko einer Eskalation", so Possnig, die für Toleranz den Mitmenschen gegenüber plädiert und das eigene Verhalten so zu gestalten, dass es für andere erträglich sei.
Possnig rät dazu, wenn möglich eine "eigene kleine Höhle" zu schaffen, einen persönlichen Rückzugsort. "Sich zurückzuziehen ist gesund, solange es nicht exzessiv betrieben wird." Gleichzeitig sollte man aber auch in Kontakt bleiben: "Nichts heitert so sehr auf, wie ein Telefonat mit einer guten Freundin, einem guten Freund" - E-Mails oder SMS hätten bei weitem nicht so positive Effekte zu bieten.
Für die Medizinerin sind Phasen getrübter Stimmung oder Motivationsverlust beinahe unvermeidbar. "Das ist normal und es ist gut, sich dessen bewusst zu sein: Es wird bessere und schlechtere Tage geben", oder wie man in der Forschungsstation sagte: "Es gibt Tage, an denen man draußen nur die Dunkelheit sieht, und Tage, an denen man die Sterne bemerkt."