Schriftstellerin erlag langer, schwerer Krankheit
Die österreichische Autorin Elfriede Gerstl ist heute, Donnerstag, nach langer schwerer Krankheit im Alter von 76 Jahren gestorben. Dies teilte ihr Freund und Kollege Herbert J. Wimmer mit. Gerstl verfasste Gedichte, Essays und kurze Prosastücke und war im Rahmen der "Wiener Gruppe" aktiv. Besonders dem Thema der Geschlechterrollen hatte sich die engagierte Feministin verschrieben.
Jelinek über Gerstl
Elfriede Jelinek lobte die "unheimlich
präzise Fragmenthaftigkeit" ihrer Gedichte, es gehe "nicht kürzer, nur
länger, also schlechter". Gerade diese Knappheit, in der die Dichterin
Elfriede Gerstl ihren Alltag verpackte, machte ihr Werk zu einer Sammlung
pointierte Schnappschüsse ihrer Zeit: Ihr "Rohstoff" war oft Wien, ihre
Heimat, in der sie den Nationalsozialismus versteckt überlebte, wo sie zu
allen wichtigen literarischen Gruppierungen ihrer Zeit in Kontakt stand, und
bis ins Alter eine bekannte Persönlichkeit war. Und wo sie heute,
Donnerstag, nach langer Krankheit verstarb.
Werk
"Alles was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen":
Dieses Zitat von Elfriede Gerstl könnte als Motto über dem gesamten Oeuvre
der Wienerin stehen. Sprachgespür, subtiler Witz und das gezielte Auffangen
von Zeitgeist, Trends und sprachlichen Codes kennzeichneten ihr Schreiben,
dass sich dem Wiener Idiom ebenso gern hingab wie dem Hochdeutschen. Und der
Stadt, die riecht "nach veilchen und mottenkugeln / duftende / schosskind
europas", dem "der balkan / in vielen sprachen / die hand küsst", wie sie in
der "Neuen Wiener Mischung" schreibt.
Leben
Elfriede Gerstl wurde am 16. Juni 1932 als Tochter eines
jüdischen Zahnarztes in Wien geboren. Den Nationalsozialismus überlebte
Gerstl als Kind in diversen Verstecken in Wien. Nach 1945 studierte sie
zunächst Medizin und Psychologie, brach 1960 aber ihr Studium ab, heiratete
und brachte eine Tochter zur Welt. Erste Gedichte veröffentlichte sie in den
50er Jahren in diversen Zeitschriften wie "neue wege" und "protokolle". In
den 60er Jahren ging sie - "weil es mir unmöglich war eine Gemeindewohnung
zu bekommen" - als Stipendiatin von Wien nach Berlin, damals Fluchtpunkt
vieler österreichischer Literaten, darunter Gerhard Rühm und H.C. Artmann.
Nicht nur zur Wiener Gruppe, sondern zu allen relevanten literarischen
Szenen hatte Gerstl in den 50er, 60er und 70er Jahren Kontakt.
In Berlin entstand unter anderem der Gemeinschaftsroman "Das Gästehaus" (1965, u.a. mit Hubert Fichte und Peter Bichsel). Die (Schein-)Kommunikation der Berliner und Wiener Subkultur verarbeitete die engagierte Feministin später in ihrem Montageroman "Spielräume" (1977). 1973 brachte sie unter dem Titel "Berechtigte Fragen" einen Hörspielband heraus, "Vor der Ankunft" heißt ein 1986 erschienener Lyrikband, "Unter einem Hut" (1993) versammelt Gedichte und Essays und das Jugendbuch "die fliegende frieda" (1998) "sechsundzwanzig geschichten" zu Illustrationen von Angelika Kaufmann. 1999 kam der Lyrikband "Alle Tage Gedichte" heraus, 2001 erschien die "Neue Wiener Mischung. Gedichte und anderes". Anlässlich ihres 75. Geburtstags 2007 publizierte die Edition Splitter eine erweiterte Auflage des bekannten Bandes "Kleiderflug" mit dem Untertitel "Schreiben-Sammeln-Lebensräume".
Selbstbild
"Ein auf Füßen gehendes Gedicht" hat Elfriede Gerstl
sich selbst einmal genannt. Die zierliche rothaarige und stets ausgesucht
gekleidete Hutträgerin war auch als solche stadt- und szenebekannt. Das
Tragen und Sammeln von nostalgischer Mode - literarisch verarbeitet unter
anderem im Band "Kleiderflug. Texte - Textilien - Wohnen" (1995) - hat für
sie "viel mit Suche nach Erinnerungsfetzen zu tun", erklärte sie einmal im
"Falter"-Interview.
Späte Ehren
Die großen Würdigungen des Literaturbetriebs
wurden der Autorin, die sich als einzige Frau im Umfeld der Wiener Gruppe
behaupten konnte, erst spät zuteil, dafür aber geballt: 1999 erhielt Gerstl
sowohl den Erich Fried Preis - den ihr damals die Alleinjurorin Elfriede
Jelinek zuerkannte - als auch den Georg Trakl Preis für Lyrik. 2003 folgte
die Goldene Ehrenmedaille der Stadt Wien, im Jahr darauf der
Ben-Witter-Preis, für den ebenfalls die Literaturnobelpreisträgerin die
Laudatio hielt. 2007, nur wenige Tage nach ihren 75. Geburtstag, erhielt sie
den Heimrad-Bäcker-Preis.
Reaktionen: Kulturministerin Claudia Schmied
"Elfriede Gerstl
repräsentierte die literarische Avantgarde in Österreich. Ihr Schreiben war
mutig nach der Verfolgung durch das nationalsozialistische Terrorregime. Es
war selbstbestimmt in einer Welt, in der Autorinnen hinter ihren männlichen
Kollegen zurückstecken mussten. Ihr Werk war poetisch und sprachgewandt, ihr
öffentliches Auftreten jedoch bescheiden. Durch ihren Tod hat die
deutschsprachige Nachkriegsliteratur eine wichtige Vertreterin verloren,
deren Werk in all seiner Bedeutung erst zukünftige Generationen erfassen
werden können", schloss Kulturministerin Claudia Schmied