Nach der Terror-Nacht von Wien:

Die 7 Punkte des Staatsversagens

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Der Einsatz der Spezialeinheiten lief in der Terrornacht fast perfekt. Zuvor dürften aber folgenschwere Pannen im Behördenapparat und auch in der Innenpolitik passiert sein.

Wien.Die bisher 7 Punkte des Staatsversagens zeigen, dass im Umgang des Staatsappaats mit der islamistischen Terrorbedrohung einiges schiefgelaufen sein könnte.

1. Die frühe Haftentlassung. Der in einer Gemeindewohnung in der Wagramer Straße in Wien-Donaustadt lebende Kujtim F. wurde im April 2019 zu 22 Monaten Haft verurteilt. Aber bereits am 5. Dezember 2019 war seine im Juli angetretene Gefängnisstrafe beendet. Laut Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) hätte es „der Terrorist geschafft, das Deradikalisierungsprogramm der Justiz zu täuschen“. Die Justizministerin Alma Zadić (Grüne) erklärte dazu, dass dies auch „unter Auflage einer laufenden Kontrolle“ zweckmäßig sei.

8 Tage vor Anschlag droht Ministerin den Islamisten

2. Keine Überwachung. Offenbar konnte der junge Islamist gleich nach seiner Haftentlassung weiter ungehindert seine gefährlichen Pläne verfolgen: Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) dürfte ihn nicht aktiv überwacht haben. In einem BMW 320d kreuzte Kujtim F. am 23. Juli 2020 in Bratislava auf und wollte dort Munition für ein AK-47-Sturmgewehr kaufen – Stahlmantelgeschosse vom Kaliber 7,62 mm, die jede Standard-Schutzweste der Polizei durchschlagen.

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R.Schmitt, Autor des Berichts, war Montagnacht am Tatort. 

3. Die ignorierte Warnung. Die slowakischen Behörden informierten unverzüglich und schriftlich die Kollegen in Wien. Das Schreiben an Europol und Österreichs Verfassungsschutz liegt dem INSIDER vor. Der Inhalt ist eindeutig: Ein bekannter Islamist aus Wien will große Menge hochbrisanter Munition kaufen. Die Reaktion des Verfassungsschutzes in Österreich? Nichts. Der Verdächtige blieb danach weiter unbeobachtet und unbefragt in Freiheit.

4. Die „Kriegserklärung“. Mit dem Wissen, dass sich zwischen 300 und 600 sogenannte „Gefährder“ in Wien, Graz und Linz aufhalten, kam es am 25. Oktober, acht Tage vor dem Terroranschlag, zu einer überraschenden „Kriegserklärung“ der Integrationsministerin: Susanne Raab (ÖVP) sagte in einem Pressestatement, sie wolle „jede Form von Parallelgesellschaft, die Nährboden für den schrecklichen Terror (Anm.: wie etwa in Paris) sein kann, von Beginn an bekämpfen“. Für die in Österreich lebenden Islamisten, unter denen Dutzende kampferprobte Veteranen aus den Bürgerkriegen in Syrien und im Nordirak sind, war die Botschaft somit klar.

Trotz dieser „Kriegserklärung“ Raabs und der dabei erwähnten Betonung des Bündnisses mit Frankreich in dessen Anti-Terrorkrieg wurden der Schutz der Einrichtungen der Israelitischen Kultusgemeinde nicht verstärkt. Zudem hat man Österreichs Innenstädte nicht wesentlich besser überwacht – und die dem Verfassungsschutz bekannten Islamisten nicht intensiver observiert.

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Extrem schnell vor Ort: Beamte der Wega & Cobra im 1. Bezirk in Wien. 

Ex-Minister: »In Terrornacht war große Polizeiaktion geplant«

5. Die Razzien. Obwohl dafür bisher kein schriftlicher Beleg aufgetaucht ist, behauptet Ex-Innenminister Herbert Kickl (FPÖ): Für die Nachtstunden des 2. Novembers seien zahlreiche Hausdurchsuchungen durch WEGA und Cobra in der Islamistenszene in Wien geplant gewesen. Die Polizeiaktion hätte der erste Schlag der von Integrationsministerin Raab präsentierten „Taskforce“ gegen Islamisten sein sollen, wird in ­Polizeikreisen erzählt. Dadurch drängen sich zwei Fragen auf: Hat der Terrorist Kujtim F. vorab von den Hausdurch­suchungen erfahren? Und wollte er mit diesem Wissen einen kaum vorbereiteten Anschlag durchziehen, der in einem „Suicide by Cop“ enden soll?

Könnte Kickl seine These belegen, würde dies auch erklären, warum derart viele Polizisten der Spezialeinheiten WEGA und Cobra binnen kürzester Zeit an den Tatorten waren.

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Spezialeinheiten in der Terrornacht in Wiens City: Stundenlang wurde noch nach weiteren Tätern gefahndet. Die Lage war lange Zeit unklar. 

6. Untätigkeit. Noch ein folgenschwerer Fehler der Verfassungsschützer hat das Innenministerium jetzt bestätigt. Zwischen 16. und 20. Juli 2020 trafen sich Islamisten aus der Schweiz und aus Deutschland mit Kujtim F. und anderen Terrorverdächtigen in einem Wiener Park. Österreichs Nachrichtendienst erfuhr aufgrund eines Tipps aus Deutschland von dem Treffen, observierte die Teilnehmer – dann passierte nichts mehr. Der Wiener Islamist konnte somit weiter an seinem Terrorplan arbeiten.

Glock-Dienstpistolen gegen AK-47

7. Keine Feuerkraft. Den ersten Kontakt mit dem Islamisten hatte am Montag um 20 Uhr eine Funkstreifenbesatzung auf dem Schwedenplatz. Die Beamten gerieten sofort unter Beschuss des Täters – immer wieder waren Feuerstöße aus dem serbischen AK-47-Nachbau des Islamisten zu hören. Effektive Reichweite: 200 Meter. Die Polizisten schossen dagegen mit ihren Glock-Dienstpistolen zurück. Effektive Reichweite: 50 Meter (ein Viertel der Reichweite der AK-47).

Die Polizisten hatten kein Sturmgewehr im Wagen mit, obwohl dies bereits seit 2019 so sein sollte. Wie ein Polizeigewerkschafter gegenüber dem Kurier berichtet hat, sind in ganz Wien noch immer nur 14 Funkstreifen mit dem Steyr AUG 3 unterwegs, also eine Sektorstreife pro Stadtpolizeikommando. Acht Sturmgewehre sind noch in Kästen in den 14 Dienststellen verwahrt. Im ersten Feuergefecht wurde ein Polizist schwer verletzt, der Täter lief weiter.

Die 7 Punkte des Staatsversagens zeigen somit, wie nötig die vom Innenminister angekündigte Untersuchungskommission ist – die Reform des BVT müsste sofort beschleunigt werden.

(rs)

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