Wie Alfred Gusenbauer in Zeitlupe seinen Sturz erlebt. Warum er das Kanzlerfest wirklich absagte.
Mit einem genialen Trick zog der Kanzler letzte Woche den Kopf aus der Schlinge. Doch der Preis ist hoch: eine frustrierte Partei, ein hysterischer Koalitionspartner. Und ein Alfred Gusenbauer, der nur noch einem vertraut: Alfred Gusenbauer.
Es war vergangene Woche, als der Kanzler ausnahmsweise einmal zum Telefon griff und einen Parteifreund anrief. Alfred Gusenbauer wählte die Nummer von Heinz Fischer und vereinbarte für Mittwoch einen Termin mit dem Bundespräsidenten. „Es war ein sehr emotionales Gespräch“, schildert ein Insider. „Der Kanzler ist schwer getroffen, tief enttäuscht von seinen Parteifreunden. Er hat Fischer klargemacht, dass er hundertprozentig weiter als Bundeskanzler arbeiten wird, dass er sich von der Partei als Regierungschef nicht absetzen lässt, weil die Partei dafür nicht zuständig sei, und dass ihn nur ein Misstrauensvotum des Parlaments zur Aufgabe zwingen würde.“
Bei den SPÖ-Granden, die von Fischer teilweise über den Inhalt informiert wurden, ist das Gespräch mittlerweile Thema Nummer 1: Ein Kanzler, der seinem Parteipräsidium über den „Genossen Bundespräsident“ ausrichten lässt, dass es sich mit dem Wunsch nach seinem Rücktritt „brausen“ kann – und dass die SPÖ gegen den eigenen Regierungschef ein Misstrauensvotum im Parlament inszenieren müsste, um ihn loszuwerden – das ist ohne Frage ein Novum in der Zweiten Republik.
Alle überrumpelt
Ein langjähriger Weggefährte des Kanzlers
erklärt die „Gedankenwelt des Alfred Gusenbauer“ so: „Der Alfred hat sein
Präsidium in der legendären Rücktrittssitzung wieder einmal in genialer Art
ausgetrickst. Er hat alle überrumpelt und damit die Zustimmung für ein
Modell erhalten, das im ersten Moment keiner verstanden hat – das aber von
dem Taktiker perfekt durchdacht war:
- Gusi ist als Parteichef zurückgetreten – also von jenem Posten, über den die Partei abstimmen und von dem sie ihn spätestens im Herbst hätte abberufen können.
- Er hat aber, ganz gegen die Erwartung, den Kanzlerposten behalten. Er hat damit jenen Posten behalten, auf den die Partei keinen Zugriff hat.
Das Parteipräsidium kann ihn nicht zum Rücktritt als Kanzler zwingen – nur das Parlament. Gusenbauer kann und wird damit bis zur nächsten Wahl Kanzler bleiben – und nur die ÖVP entscheidet, ob das in diesem Herbst, im Jahr 2009 oder erst im Herbst 2010 sein wird.
Einen Kanzler wie diesen hat es in diesem Land noch nie gegeben. Von der eigenen Partei völlig entmachtet, sitzt Gusenbauer derzeit mutterseelenallein in seinem Büro. Vom Pressesprecher bis zum Kabinettschef sind alle kurz vor dem Abgang, räumen teilweise schon ihre Büros aus. „Es ist“, sagt ein Insider, „eine Stimmung wie in einem Führerbunker. Totale Frustration. Totale Funkstille. Und trotzdem wird von diesem Schreibtisch aus noch das Land regiert.“
Gusenbauer selbst lebt „allein im Kanzleramt“ zwei Leben – das private und das öffentliche.
Der private Alfred Gusenbauer ist tief gekränkt, tief verletzt, schwer angeschlagen. Er telefoniert praktisch mit keinem „Parteifreund“ mehr – nicht mit Häupl, nicht mit Burgstaller, nicht mit Haider. Zweimal am Tag ruft er Werner Faymann an, zweimal Doris Bures (von der er sich den Pressesprecher „ausleiht“). Doris Bures ist in diesen Tagen seine wichtigste Vertraute, die Einzige, zu der er noch offen spricht.
Werner Faymann gegenüber gibt er sich locker, burschikos, Motto: „Wir zwei schaffen das schon!“
Der Rest der Partei kann ihn...
Das „Kanzlerfest“ sagte er zum Entsetzen seiner gesamten Umgebung im Alleingang ab. Ein Vertrauter: „Diese Absage muss man psychologisch sehen. Gusenbauer will damit der Partei zeigen, wie getroffen er ist – und wie sehr er persönlich mit der Partei, für die dieses Fest ja gedacht ist, gebrochen hat. Hinter seiner Fassade muss er derzeit fürchterliche persönliche Enttäuschungen durchleben.“
Kanzler zeigt „Pokerface“
Der „öffentliche“ Alfred
Gusenbauer dagegen spult mit „Pokerface“ sein Programm ab, als wäre nichts
gewesen. Er empfängt Staatsgäste, ehrt Sportler, führt Regierungssitzungen,
gibt Interviews – und quält sich das tägliche Lächeln ab.
Nach der österreichischen Real-Verfassung ist er der mächtigste Mann im Land – ohne ihn geht gar nichts.
In Wahrheit ist die „Macht des Faktischen“ komplett auf Faymann übergegangen. Der frühere „Hilfs-Sheriff“ von Gusi bei der „Sozialistischen Jugend“ gibt im Alleingang die politische Linie vor.
Werner Faymann wendete die „Gusi-Linie“ der SPÖ in 10 Tagen um 180 Grad. Die von Gusi vereinbarte „Pensionsautomatik“ sagte er ab – der Kanzler nickte und „unterstützte“ ihn. Bei der Steuerreform nahm Faymann komplett das Ruder und den Arbeitskreis in die Hand – der entmachtete Gusi wehrte sich nicht: „Wir sind auf einer Linie!“ In der EU-Politik, in der Gusi bisher in enger Abstimmung mit seiner engsten Freundin Angela Merkel einen betont „europafreundlichen“ Kurs mit klarer Ablehnung jeder Volksabstimmung vertreten hat, änderte Faymann die Linie völlig konträr auf Kurs der Krone, die Gusenbauer noch vor wenigen Tagen rüde als „EU-Bonzen“ beschimpft hatte. Der offenbar völlig wehrlose Gusenbauer unterzeichnete einen von Faymann mit Dichand getexteten Brief für „künftige Volksabstimmungen“ wie eine Kapitulationserklärung.
„Lame duck“
Ein Mitarbeiter von Angela Merkel, die
von Gusenbauers Kehrtwende schlicht „entsetzt“ war, fragte in Wien nach, ob
der Kanzler „noch gesund“ sei.
In den USA nennt man Präsidenten, die kurz vor Auslaufen ihrer Amtszeit im Oval Office sitzen und nicht mehr ernst genommen werden, „lame duck“. Gusenbauer, der selbst auf der Ehrentribüne der EURO – auf die er sich so gefreut hatte – mittlerweile so traurig dreinschaut, dass selbst politische Gegner schon Mitleid bekommen, ist die erste rot-weiß-rote „lame duck“. Jeder weiß, dass Gusenbauer bei der nächsten Neuwahl nicht mehr Spitzenkandidat sein wird. Aber keiner weiß, wann die nächste Wahl sein wird.
Die ÖVP hat das erreicht, was Schüssel immer wollte: Sie hat den Kanzler, der 2006 „durch einen Irrtum der Wähler“ (Schüssel) den Ballhausplatz gewonnen hat, zerstört. Politisch. Psychisch. Vermutlich auch gesundheitlich.
Aber zur Strafe dafür hat die ÖVP derzeit keine Chance, aus der Zerstörung von Gusenbauer Kapital zu schlagen. Der neue SPÖ-Darling Faymann hat ÖVP-Obmann Molterer in nur 10 Tagen alle nur denkbaren Wahlkampf-themen weggenommen: zuerst die Pensionen. Dann die Steuerreform. Dann den Kampf gegen die Teuerung. Zuletzt sogar noch das absolute Populismus-Thema „EU-Volksabstimmung“.
Weil man als „Pensionsräuber“, „Teuerungsbösewicht“, „Steuerabkassierer“ und „EU-Bonze“ kaum eine Neuwahl gewinnen kann, muss die ÖVP auf die Abwahl von Gusenbauer verzichten. Damit betoniert ausgerechnet die Schüssel-ÖVP Gusenbauer als Kanzler ein.
Gusi bleibt
Im Parteipräsidium am 7. Juli, wo die SPÖ-Granden
Gusenbauer mit deutlichen Worten zum Rücktritt überreden wollten, wird sich
– so ein Präsidiumsmitglied – „wahrscheinlich keiner finden, der den Brutus
spielt. Was soll es für einen Sinn haben, jemandem den Rücktritt
nahezulegen, der diesem Wunsch sicher nicht nachkommen wird.“
In der SPÖ stehen alle Zeichen auf Abwarten: „Schau ma mal, wie es weitergeht – kommt’s zu Neuwahlen, wird Faymann sofort Spitzenkandidat. Kommt’s zu keinen Neuwahlen, macht Gusi weiter und Faymann muss schauen, ob er für sich eine adäquate Position findet.
Gusenbauer selbst wartet ebenfalls ab. Von Tag zu Tag wird seine Laune besser. Kam er nach der Demontage im SPÖ-Präsidium griesgrämig, käsebleich und frustriert ins Büro – und verließ es in dieser Zeit oft schon vor 18 Uhr –, so bekommt er langsam wieder Spaß am Kanzlersein. „Er joggt schon wieder“, sagt ein Mitarbeiter – so als würde er von einem Rekonvaleszenten sprechen: „Nächste Woche arbeitet er fast jeden Tag wieder bis weit nach 22 Uhr. Und zu Josef Cap hat er gesagt, er soll doch den Michael Häupl fragen, ob er als Klubobmann vor der Sommerpause in der SPÖ-Fraktion noch einen Misstrauensantrag gegen den eigenen Kanzler einbringen soll. Und dabei hat er endlich mal wieder herzlich gelacht.“