SZ: "Versuchslabor" - Frankfurter Rundschau: "Beide Seiten meinen es ernst" - Le Monde: "Tandem ist nicht selbstverständlich"
Wien/München/Paris. Internationale Zeitungen befassen sich am Donnerstag mit der türkis-grünen Regierungsbildung in Wien und ihren Auswirkungen über die Grenzen Österreichs hinaus.
Die "Süddeutsche Zeitung" (München) schreibt unter dem Titel "Das Versuchslabor":
"Die Risiken liegen auf der Hand bei diesen ungleichen Partnern. Dass sie sich in zähem Ringen auf ein Koalitionsabkommen geeinigt haben, ist ein ermutigendes Zeichen, aber noch nicht viel mehr. Denn dieses Bündnis wird sich, anders als die Vorgänger, immer wieder aufs Neue finden müssen, und das per Definition. Die frühere große Koalition war ein Bündnis der breiten Mitte, Schwarz-Blau war eine Rechtsregierung - und Türkis-Grün ist eine Koalition des Spagats. ÖVP-Chef und Kanzler Sebastian Kurz muss dabei weit nach rechts ausschreiten und auf die vielen Wähler achten, die von der FPÖ zu ihm übergelaufen sind. Er wird sie nicht verlieren wollen. Der Grünen-Vorsitzende und Vizekanzler Werner Kogler dagegen muss vor allem die linke Basis davon überzeugen, dass für den Juniorpartner Regierungspolitik immer nur die Kunst des Möglichen ist."
"Frankfurter Rundschau" (Frankfurt)
"Dennoch war die Zusammenarbeit mit der FPÖ für die Kurz-ÖVP sicherlich bequemer - denn inhaltlich gab es kaum mehr Unterschiede, seit Kurz die ÖVP weit nach rechts geführt hatte. Dennoch ist dieses Wagnis einer Zusammenarbeit mit den Grünen für Kurz jetzt kein leichtfertiger Versuch, den er schnell wieder aufgeben würde. Beide Seiten meinen es überaus ernst, obwohl es vielerlei Bruchstellen für diese neue Form des Bündnisses gibt."
"Neue Westfälische Zeitung" (Bielefeld)
"Eine schwarz-grüne Regierung wäre in Österreich auf Bundesebene eine Premiere. Dem Bündnis wird bereits jetzt Symbol-Charakter für Deutschland und andere europäische Länder zugesprochen. ÖVP-Chef Sebastian Kurz wagt nach eineinhalb Jahren in einer aus dem Ausland stets kritisch beäugten Regierung mit der rechten FPÖ nun einen Richtungswechsel. Dass die Verhandlungen erfolgreich enden würden, hatte sich in den vergangenen Tagen abgezeichnet."
"Le Monde" (Paris)
"Das Tandem zwischen dem liberalen Kurz, Verfechter einer harten Einwanderungspolitik, und den links verankerten Grünen ist nicht selbstverständlich. Das Land wird nunmehr zu den EU-Staaten gehören, in denen sich die Umweltschützer an der Regierung beteiligen. Der Konservative Sebastian Kurz und die Grünen haben am Mittwoch, dem 1. Jänner, einen Koalitionsvertrag besiegelt, mit dem die Rückkehr des jungen christdemokratischen Anführers, der bis Mai mit der äußersten Rechten regierte, in sein Amt unterzeichnet wurde."
"Dolomiten" (Bozen)
"Heureka! Die Silvesterfeuerwerke waren gerade verraucht, da zündeten Österreichs junger Altkanzler und sein grüner Kompagnon das nächste, von den Medien seit Tagen einbegleitete Feuerwerk: Wir haben eine Regierung, und was für eine! Türkis-Grün, die erste Ehe zwischen Bürgerlichen und der Öko-Bewegung auf Bundesebene in Österreich - papperlapapp - in Europa ist fix."
"Neue Zürcher Zeitung":
"Österreichs konservativ-grüne Regierung: Ein Zukunftsmodell für Europa mit Tücken. Die neue Koalition in Wien ist ein innovatives Experiment, das über die Landesgrenzen hinausstrahlt. Wie stabil sie sein wird, bleibt ungewiss. Konfliktpotenzial ist gegeben. Sind Kurz und Kogler erfolgreich, können sie über die Landesgrenzen hinaus zu einem Vorbild werden. Gerade die Deutschen blicken genau auf die österreichischen Pioniere, wenn sie über die Zeit nach Merkel diskutieren und eine Alternative zur scheinbar alternativlosen konservativ-sozialdemokratischen Regierung suchen.
Die Stärke der neuen österreichischen Regierungskoalition ist aber auch ihre potenzielle Schwäche. Beide Parteien, vor allem aber der grüne Juniorpartner, sind im Interesse des Kompromisses bis an die Schmerzgrenze gegangen. Es bleibt deshalb ein Element der Unberechenbarkeit in diesem Experiment. Angesichts der vielen potenziellen Konflikte könnte es rasch scheitern. Sollten sich Einbrüche bei den Wählerumfragen abzeichnen, wird es mit der Harmonie rasch vorbei sein. Dann wird sich zeigen, ob die konservativ-grüne Partnerschaft lediglich eine Episode ist oder zum Zukunftsmodell wird."
"Der Spiegel" (Online-Ausgabe):
"Nun regieren in Wien erstmals die Konservativen von Sebastian Kurz mit den Grünen. Kann das gut gehen? Fundis und Basisdemokraten unter Österreichs Grünen müssen tapfer sein dieser Tage. Das Talent des konservativen Ex-Kanzlers, sich Koalitionspartner gefügig zu machen, ist unbestritten. Am Beispiel der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) hat Kurz eindrucksvoll demonstriert, worauf es ankommt bei der Kunst, sich Kernthemen des Juniorpartners einzuverleiben.
Bis zum Beginn der Ibiza-Affäre um FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und seinen Fraktionsvorsitzenden Johann Gudenus regierte der 33 Jahre junge Regierungschef Kurz weitgehend unbeeindruckt von den vielfältigen Ausrutschern seiner freiheitlichen Mehrheitsbeschaffer. Ob das Kabinett Kurz II zum Modell für künftige schwarz-grüne Koalitionen auch in anderen europäischen Ländern wird? Oder eher zum abschreckenden Beispiel dafür, was passiert, wenn ehemals fundamentaloppositionelle Parteien Verantwortung übernehmen? Österreich, laut Karl Kraus eine bewährte 'Versuchsstation des Weltuntergangs', wird Antworten liefern."
"Frankfurter Allgemeine Zeitung":
"Zwei programmatisch und kulturell so unterschiedliche Parteien in ein Regierungskorsett zu zwängen, kann auf zwei Wegen funktionieren. Entweder beide Seiten schleifen sich gegenseitig ihre Ecken und Kanten ab (das war das Prinzip der jahrzehntelangen großen Koalition). Der Preis ist Konturlosigkeit. Oder aber man erträgt die Unbequemlichkeit, die eine Kante beim Nebenmann verursacht, und tröstet sich damit, selbst auch sichtbar und erkennbar zu bleiben.
Das ist der Weg, den Kurz und Kogler erklärtermaßen gehen wollten. Allerdings drohen manche notwendige Reformen - etwa bei den Pensionen - eher nach schlechter großkoalitionärer Art auf die lange Bank geschoben zu werden. Kurz und Kogler müssen das Postulat noch mit Leben erfüllen, man habe in der neuen Koalition 'das Beste aus beiden Welten'."
"Heilbronner Stimme":
"Die ungleichen Partner sind zum Erfolg verdammt. Der ebenso wendige wie machtbewusste Kanzler Kurz kann sich nach dem Flop mit der rechtspopulistischen FPÖ keinen weiteren Ausrutscher leisten. Und die Grünen, die bei der Wahl 2017 noch aus dem Parlament geflogen waren, haben die historische Chance, erstmals in Österreich mitzuregieren. Die Vernunftehe, die ÖVP und Grüne in Wien schließen, kann funktionieren, wenn beide Partner kompromissbereit sind und bleiben, ohne ihren Markenkern aufzugeben."