Brexit-Sondergipfel

Kurz an London: 'Take it or leave it'

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Bundeskanzler: Österreich und EU sind auf alle Szenarien vorbereitet 

Großbritannien kann sich nach den Worten von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) keine weiteren Zugeständnisse erwarten. "Es ist eine Take-it-or-leave-it-Situation", sagte Kurz zum Ende des Brexit-Sondergipfels am Sonntag in Brüssel. "Es geht nicht darum, etwas anzubieten oder nachzuverhandeln."

Kurz betonte, wenn auch der heutige Tag historisch sei, sei er trotzdem kein guter. Mit Großbritannien verliere die EU "nicht irgendein Mitglied", sondern eine der größten Volkswirtschaften, eine militärische Größe und ein politisches Schwergewicht. "Niemand ist in Feierstimmung", sagte Kurz.

 

Auf harten Brexit vorbereitet

Sowohl die Republik Österreich als auch die EU wären aber auf ein "No-Deal"-Szenario und auf einen "harten Brexit" vorbereitet, versicherte Kurz. Es gebe eine Arbeitsgruppe zwischen dem Bundeskanzleramt und den Ministerien, vor allem Inneres (Aufenthaltsrechte), Infrastruktur (Flug- und Transportrechte) sowie das Finanzministerium (Zollfragen) wären betroffen. "Wir sind auf alle Szenarien vorbereitet", versicherte Kurz.
 
Der Kanzler verwahrte sich gegen Spekulationen, was passieren würde, wenn das britische Parlament den Deal ablehnt. Es gebe jetzt die Möglichkeit der Zustimmung, "wir sollen darauf hoffen". Zwar gebe es Kontakte zur britischen Politik, aber "am Ende des Tages ist es eine britische Frage".
 

EU-27 billigen Brexit-Vereinbarung 

Die Europäische Union hat bei einem Sondergipfel in Brüssel den Austrittsvertrag und die Erklärung zu den künftigen Beziehungen mit Großbritannien angenommen. Dies teilte EU-Ratspräsident Donald Tusk am Sonntag mit.
 

Vereinbarung tritt am 30. März in Kraft

Die Brexit-Vereinbarung zwischen der EU und Großbritannien soll am 30. März 2019 in Kraft treten. Der Gipfel rief die EU-Kommission, das EU-Parlament und den EU-Ministerrat auf, "die nötigen Schritte zu setzen, um sicherzustellen, dass die Vereinbarung am 30. März 2019 in Kraft treten kann, um so für einen geordneten Austritt zu sorgen". Mit dem Austrittsvertrag verlässt Großbritannien die Europäische Union und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom).
 
Der Gipfel billigte zudem die politische Erklärung für die künftigen Beziehungen zwischen der EU und London. Die Staats- und Regierungschefs unterstrichen ihre Entschlossenheit "für eine so eng wie mögliche Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich". Die EU-Position werde durch die bisherigen Leitlinien definiert. Der Gipfel dankte außerdem dem EU-Chefverhandler Michel Barnier für dessen "unermüdliche Bemühungen" und seinen Beitrag, die 27 verbleibenden EU-Staaten vereint zu halten.
 
EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani schloss Nachverhandlungen zum Brexit-Abkommen - ebenso wie bereits zuvor schon Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) - aus. "Es ist unmöglich, den Text noch einmal aufzumachen", sagte Tajani beim Sondergipfel am Sonntag. Er erklärte jedoch, das Austrittsgesuch nach Artikel 50 des EU-Vertrags könnte von Großbritannien zurückgezogen werden, wenn beide Seiten dem zustimmen würden. Seitens Großbritanniens gebe es aber bisher keinen solchen Wunsch.
 

Gute Vereinbarung

Tajani nannte den Brexit-Deal "eine gute Vereinbarung für beide Seiten". Das EU-Parlament könnte bereits im Jänner über den Austrittsvertrag abstimmen. Dies sei aber angesichts der erforderlichen Übersetzungen fraglich. Er halte daher eine Abstimmung im Februar oder im März für wahrscheinlicher. Großbritannien will die EU am 29. März 2019 verlassen.
 
Tajani sagte, er habe May auch angeboten, im EU-Parlament für den Deal zu werben. Dort gebe es eine große Mehrheit für die Vereinbarung, versicherte Tajani.
 
In Frage steht jedoch die ebenfalls erforderliche Zustimmung im britischen Parlament. "Es kann niemand vorhersagen, wie sie ausgehen wird", sagte Kurz am Sonntag in Brüssel zu der für Dezember erwarteten Abstimmung.
 
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker geht von einer Zustimmung des britischen Parlaments zum Brexit-Deal aus. Vor Beginn des Sondergipfels sagte er, der nun beschlossene Vertrag zwischen der britischen Premierministerin Theresa May und der EU "ist der bestmögliche". Jedenfalls handle es sich um einen "traurigen Tag", es gebe "keinen Jubel und keine Feier" anlässlich des Austritts.
 

May: Die besten Tage liegen vor uns

Die britische Premierministerin Theresa May hat sich nach dem Brexit-Sondergipfel der EU und der Absegnung des erreichten Austrittsvertrags überzeugt gezeigt, dass "die besten Tage vor uns liegen". May bekräftigte am Sonntag in Brüssel, dass es sich um den "besten Deal und einzig möglichen Deal", der erreichbar war, handle.
 
Die Premierministerin appellierte an die britischen Parlamentarier, dem zuzustimmen. Sie kündigte eine Abstimmung noch vor Weihnachten an.
 
Neuerlich unterstrich sie die bedeutendsten Punkte in dem Deal mit der EU. So erhalte Großbritannien die volle Kontrolle über seine Grenzen. London könne sein eigenes Migrationssystem schaffen, mit dem Talente und Fähigkeiten im Land durch geeignete Einwanderung gefördert werden könnten. Dies sei im nationalen Interesse. Darüber hinaus erhalte Großbritannien "die Kontrolle über unser Geld" zurück. Es werde kein Geld mehr an die EU überwiesen. Damit könnten 390 Millionen Pfund pro Woche für Prioritäten in Großbritannien aufgewendet werden.
 
Schließlich habe Großbritannien die Kontrolle über die eigene Gesetzgebung. Es bedeute das "Ende des EuGH im Vereinigten Königreich". Für die britischen Bauern werde es ein neues System geben, und man brauche keine Fischquoten mehr. "Wir sind ein unabhängiger Küstenstaat, der volle Kontrolle über seine Gewässer hat."
 
Trotz eines Ausscheidens aus Binnenmarkt und Zollunion werde es künftig eine "engere Zusammenarbeit Großbritanniens mit der EU" als für andere geben. Dies sei ebenfalls gut für das nationale Interesse und die Wirtschaft. Insgesamt gab sich May überzeugt, dass es möglich sei, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. "Die britische Bevölkerung wird das verstehen."
 
 

Was bedeutet das Vertragspaket?

Mit dem Brexit am 29. März 2019 ändert sich im Alltag im besten Fall zunächst einmal gar nichts. Der am Sonntag beim Sondergipfel gebilligte Austrittsvertrag der Europäischen Union mit Großbritannien sieht eine Übergangszeit vor und verschiebt die praktischen Folgen der Trennung somit mindestens auf Ende 2020.
 
Das gilt aber nur, wenn der Pakt auch ratifiziert wird. Und das ist angesichts der massiven Widerstände im britischen Parlament alles andere als gesichert. Platzt der Deal, droht Chaos für Bürger und Unternehmen. Was also bedeutet das Vertragspaket?
 
 .. für Bürger und Unternehmen
 
Zentral ist die Übergangsphase bis mindestens Ende 2020. Sie kann einmal um bis zu zwei Jahre verlängert werden, also längstens bis Ende 2022. In dieser Zeit bleibt Großbritannien im EU-Binnenmarkt und in der Europäischen Zollunion, alle EU-Regeln gelten weiter. Es gibt keine Zollkontrollen, Einfuhr- oder Reisebeschränkungen. Da Großbritannien nach dem Austritt offiziell Drittstaat ist, darf es in Brüssel aber nicht mehr mitbestimmen. Neue EU-Regeln muss es trotzdem akzeptieren. Gedacht ist dies als Schonfrist für die Wirtschaft, aber auch als Verhandlungszeit, um die dauerhaften Beziehungen der beiden Seiten zu klären.
 
Würde der Vertrag nicht rechtzeitig vor Ende März ratifiziert, sähe alles ganz anders aus. Dann gäbe es keine Übergangsfrist und es drohte ein abrupter Bruch, unter anderem mit langen Wartezeiten am Zoll und großer Unsicherheit. Neben der Zustimmung des Parlaments in London ist auch die des Europaparlaments nötig, die Parlamentspräsident Antonio Tajani aber schon angekündigt hat.
 
... für EU-Bürger in Großbritannien und Briten in der EU
 
Der Vertrag sichert zu, dass die mehr als drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien und eine Million Briten auf dem Festland auch nach der Übergangsphase so weiterleben können wie bisher. Das betrifft unter anderem ihr Recht auf Aufenthalt, Erwerbstätigkeit, Familiennachzug, auf Ansprüche an die Sozialkassen und auf Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Träte der Vertrag nicht in Kraft, würde diese Rechtssicherheit fehlen. Doch würden wohl Notfallvereinbarungen auf Gegenseitigkeit geschlossen.
 
... für Menschen in Irland und Nordirland
 
Nach langem Streit ist nun im Vertrag garantiert, dass die Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland offen bleibt, also keine Schlagbäume oder Kontrollen eingeführt werden. Auch dafür wollen beide Seiten in der Übergangsphase eine dauerhafte Lösung finden. Für den Fall, dass dies nicht gelingt, gibt es eine Garantieklausel, den "Backstop". Dann bliebe ganz Großbritannien in einer Zollunion mit gemeinsamen Standards mit der EU, um Grenzkontrollen zu vermeiden. Für Nordirland würden zudem weiter Bedingungen des EU-Binnenmarkts sowie einige Kontrollpflichten für Waren aus dem übrigen Vereinigten Königreich gelten. Käme dies nicht, müsste die Republik Irland eigentlich die neue EU-Außengrenze kontrollieren. Eine solche Teilung der irischen Insel widerspräche aber dem Karfreitagsabkommen von 1998, das Jahrzehnte der Gewalt in Nordirland beendete.
 
... für den europäischen Steuerzahler
 
Großbritannien sagt im Vertrag zu, für finanzielle Pflichten aus der Zeit seiner EU-Mitgliedschaft einzustehen. Bis zum Ende der Übergangszeit zahlt London weiter Beiträge in das EU-Budget. Darüber hinaus übernimmt Großbritannien einen Anteil an langfristigen Lasten, etwa an Pensionszahlungen für EU-Beamte. Die Summe steht nicht im Vertrag, sondern nur "eine faire Berechnungsmethode". Geschätzt geht es um mindestens 45 Milliarden Euro, die noch von London an Brüssel fließen. Ohne den Vertrag müssten EU-Steuerzahler einspringen. Schon 2019 würde nach Angaben aus dem Europaparlament ein Loch von etwa zwölf Milliarden Euro aufgerissen.
 
... für Warenhersteller
 
Waren mit einer Produktzulassung dürfen auch nach Ende der Übergangsphase verkauft werden, ohne dass sie ein besonderes Label brauchen. Das gilt zum Beispiel für Spielsachen, Kleidung und Kosmetik, aber auch für Medikamente und Medizinprodukte. Ausgenommen sind lebende Tiere und Tierprodukte. Markenrechte sollen auf beiden Seiten unangetastet bleiben.
 
... für Ursprungsbezeichnungen
 
Parmaschinken, Champagner oder Fetakäse sollen nach der Übergangsphase in Großbritannien den nach EU-Recht besonderen Status als geschützte Ursprungsbezeichnung behalten. Insgesamt gilt das für mehr als 3.000 Produkte, die als regionale Besonderheit vermarktet werden und dafür bestimmte Bedingungen erfüllen müssen. Walisisches Lamm und andere geschützte britische Produkte behalten ihren Schutz in der EU.
 
 ... für Kriminelle
 
Wer zum Ende der Übergangsphase per britischem Haftbefehl gesucht und in der EU geschnappt wird, sollte sich nicht zu sicher fühlen. Der Austrittsvertrag sorgt vor, dass solche Verdächtige gegenseitig ausgeliefert werden.
 
Das Abkommen soll also bis zum Ende der Übergangsphase Rechtssicherheit schaffen - denn erst dann kommt der Brexit wirklich zum Tragen. Wie es danach weiter geht, soll in einem umfangreichen Handels- und Partnerschaftsabkommen geklärt werden. Dazu gibt es bisher eine 26 Seiten umfassende Absichtserklärung, die am Sonntag beim Gipfel ebenfalls gebilligt wurde. Zentraler Punkt ist die Vision einer "Freihandelszone, die tiefe Kooperation bei Regeln und Zoll" beinhalte. Zölle oder Quoten soll es nicht geben. Scheitert das Austrittsabkommen, fehlt diese Grundlage der künftigen Beziehungen.
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