In Fernseh-Ansprache

Kurz-Appell an Bevölkerung: "Leisten wir alle unseren Beitrag"

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Kapazitäten im Gesundheitssystem "bald gesprengt" - Dann wären Triagen nötig.

Wien. "Leisten wir alle unseren Beitrag. Damit die Republik Österreich und somit wir alle gut durch diese Krise kommen", appellierte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) Samstagabend in einer Fernseh-Ansprache. Nach Verkündung des zweiten Corona-Lockdowns in einer Pressekonferenz wandte er sich via TV an die Bürger, um zu erklären, warum jetzt wieder so drastische Maßnahmen ergriffen werden - und sie zu "bitten", soziale Kontakte zu reduzieren und Abstand zu halten.

Wenn die Neuinfektionen weiter so stark anwachsen würden in Österreichs Gesundheitssystem - wiewohl eines der besten der Welt - "schon bald die Kapazitäten gesprengt". Das würde nicht nur bedeuten, dass geplante Operationen aufgeschoben werden müssten, sondern im weiteren Schritt wären "Triagen" nötig. Also die Entscheidung der Ärzte "über Leben und Tod" - "ob ein Unfallopfer, ein Herzinfarktpatient oder ein Corona-Fall das freie Intensivbett bekommt".

"Das können und werden wir nicht zulassen"

Dann bekämen Patienten nicht die Behandlung, die sie brauchen. "Das können und werden wir nicht zulassen", begründete Kurz die Entscheidung zum zweiten Lockdown. Um die Zahl der täglichen Neuinfektion entschieden zu senken würden Verordnungen und Regeln aber nicht ausreichen: "Erfolgreich sind wir nur, wenn alle mitmachen", nötig wäre "der Beitrag von jedem einzelnen von uns".

Einmal mehr zeichnete Kurz den Silberstreif am Horizont durch eine Impfung im Sommer 2021. Er sei überzeugt dass bis dahin der Durchbruch geschafft sei - aber Herbst und Winter würden erst einmal "sehr schwer".

Die Rede im Wortlaut:

"Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Österreicherinnen und Österreicher!

Glauben sie mir, ich würde Ihnen heute gerne eine andere Nachricht überbringen. Aber es ist meine Aufgabe Ihnen die Wahrheit zu sagen und notwendige Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie unangenehm und unpopulär sind.

Die zweite Welle der Corona-Pandemie ist für ganz Europa extrem intensiv und stellt auch uns vor  eine massive Herausforderung. Es ist zwar richtig, dass viele Corona-Infizierte  nur milde oder gar keine Symptome haben. Es gibt aber einen gewissen Prozentsatz, der sehr schwer erkrankt und intensivmedizinische Betreuung braucht.

Österreich hat zwar eines der besten Gesundheitssysteme der Welt, aber auch unsere Kapazitäten sind begrenzt. Und klar ist: Wenn dieses exponentielle Wachstum der Neuinfektionen weiter stattfindet, werden schon bald unsere Kapazitäten gesprengt.

Das würde nicht nur bedeuten, dass geplante Operationen aufgeschoben werden müssen. Sondern, in einem weiteren Schritt, kommt es dann zu sogenannten Triagen: Das klingt technisch, es bedeutet aber, dass in den Krankenhäusern entschieden werden muss, ob ein Unfallopfer, ein Herzinfarktpatient, oder ein Corona-Fall das freie Intensivbett bekommt.

In solch einer Situation entscheiden Ärzte über Leben und Tod. Und Patienten bekommen nicht die Behandlung, die sie brauchen. Das können und werden wir nicht zulassen.

Daher müssen wir jetzt entschlossen handeln, um die Zahl der täglichen Neuinfektionen entschieden zu senken.

Ab nächster Woche Dienstag gibt es bis Ende November einen zweiten Lockdown. Wie im Frühling werden wir in dieser Phase  auf vieles verzichten müssen, was unser Leben ausmacht: Auf Freizeitgestaltung, Kultur, Sport, aber auch auf die Gastronomie. Gleichzeitig ist es wichtig, dass wir die Wirtschaft so gut es geht am Laufen halten.

Daher wird der Handel weiter geöffnet sein und auch persönliche Dienstleistungen, wie der Frisör oder die Physiotherapie, werden, unter strengen Hygienevorschriften, weiterhin möglich sein. Auch Industrie und Produktion werden wie zuvor weiterarbeiten können, mit Home-Office Lösungen überall dort, wo es möglich ist.

Darüber hinaus bleiben Kindergärten und Pflichtschulen vorerst geöffnet. Nur die Oberstufe, ab der 9. Schulstufe, wird auf Distance Learning umgestellt. Wir werden hier die Infektionsentwicklung genau evaluieren und, wenn notwendig, nachschärfen.

Besonders wichtig ist mir, dass wir die wirtschaftlichen Folgen, für all jene Betriebe, die in den nächsten Wochen geschlossen sind, bestmöglich abfedern. Wir werden betroffenen Unternehmen daher bis zu 80% des Umsatzes im November ersetzen, wenn sie sich verpflichten, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu behalten. Wir werden dabei rasch und unbürokratisch helfen, um so viele Arbeitsplätze wie möglich zu retten.

Liebe Österreicherinnen und Österreicher!

Die meisten Ansteckungen finden nach wie vor statt, wenn sich Menschen treffen, die sich gut kennen. Denn gerade wenn man Menschen trifft, die man mag, hält man oft wenig Abstand, kommt sich näher und verbringt auf engem Raum viel Zeit miteinander.

Daher bitte ich Sie: Reduzieren Sie generell soziale Kontakte und halten Sie, wenn Sie jemanden treffen, so gut wie möglich Abstand.

Ich weiß, dass diese Maßnahmen für uns alle nicht leicht sind. Aber wir sind damit in Österreich nicht alleine. Fast alle Länder in der Europäischen Union sind in einer ähnlichen Situation und müssen ähnliche Maßnahmen setzen. Egal ob Deutschland oder Frankreich, das sozialdemokratisch geführte Spanien, die liberal geführten Niederlande oder das rechtskonservative Polen – alle müssen handeln, um einen Zusammenbruch ihres Gesundheitssystems zu verhindern.

Denn die wichtigste Aufgabe jeder Regierung ist es, die Bevölkerung zu schützen. Aber, die Maßnahmen, die Verordnungen, die Regeln – all das reicht alleine nicht aus.

Erfolgreich sind wir nur, wenn alle mitmachen. Der Staat kann das nicht alleine schaffen. Das Gesundheitssystem kann das nicht alleine schaffen. Es braucht den Beitrag von jedem einzelnen von uns.

Und wenn Sie jetzt gerade zuschauen und sich denken: „Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr ich halte das nicht mehr aus.“ Dann kann ich Ihnen nur sagen: ich verstehe Sie. Auch für mich ist es nicht angenehm, stets eine Maske zu tragen. Auch für mich ist es schwer, Familie und Verwandte nicht zu sehen. Und auch für mich ist es ein Verzicht, nicht das eine oder andere mal nach der Arbeit Freunde zu treffen.

Die Pandemie ist für jeden von uns eine Belastung und sie löst in jedem von uns etwas aus. In sehr vielen Menschen etwas Gutes: Junge Leute, die für ältere einkaufen gehen. Menschen die Nachbarn versorgen, die gerade in Quarantäne sind. Gesundheitspersonal, das über eigene Grenzen hinausgeht.

In manchen Menschen löst sie aber auch extreme Verzweiflung und Wut aus. Auch das ist verständlich. Aber wenn wir solche negativen Emotionen verspüren, sollten wir auch kurz innehalten und uns bewusst daran erinnern, dass viele Menschen diese Krise in anderen Teilen der Welt, unter ganz anderen Bedingungen durchleben müssen. 

Ich denke, auch wenn diese Situation eine extrem schwierige ist, können wir uns doch glücklich schätzen, sie in einem Land wie Österreich zu erleben –mit einem starken Gesundheitssystem, einem robusten Sozialstaat und der Finanzkraft, um Notsituationen abzufedern.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich weiß, für viele ist aktuell die wichtigste Frage: „Wann ist das alles endlich vorbei?“ Ich bleibe hier bei meiner Einschätzung, die ich schon vor einigen Monaten getroffen habe: Der Herbst und der Winter werden sehr schwer. Aber ich bin überzeugt davon, dass wir bis zum Sommer 2021 den Durchbruch schaffen, und mithilfe eines Impfstoffs zu unserer gewohnten Normalität zurückkehren können.

Bis dahin werden wir in einer Situation sein, in der wir niemals sein wollten. In einer Situation, in der wir zwischen dem Schutz der Gesundheit und dem Schutz von Grund-und Freiheitsrechten den Ausgleich finden müssen. Und es wird eine tägliche Herausforderung bleiben, hier die richtige Balance zu finden.

Bis dahin wird die Situation gesundheitspolitisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich herausfordernd bleiben.

Bis dahin kämpfen wir gemeinsam um jeden Patienten, um jeden Betrieb und um jeden Arbeitsplatz.

Ich bitte Sie eindringlich: Leisten wir alle unseren Beitrag. Damit die Republik Österreich und somit wir alle gut durch diese Krise kommen.

Vielen Dank."

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