Britische Abgeordnete sollen Lage kommende Woche diskutieren.
Angesichts der dramatischen Entwicklungen in Afghanistan hat der britische Premierminister Boris Johnson seinen wichtigsten Krisenstab einberufen und das Parlament zu einer Dringlichkeitssitzung aus der Sommerpause zurückgerufen. Nach Angaben eines Sprechers sollte Johnson noch am Sonntag mit dem nationalen "Cobra"-Krisenreaktionskomitee die Lage in Afghanistan erörtern. Laut Parlament werden die Abgeordneten am Mittwoch über das weitere Vorgehen Großbritanniens beraten.
Der konservative Abgeordnete Tobias Ellwood forderte seinen Parteikollegen Johnson auf, den britischen Truppenabzug aus Afghanistan dringend zu "überdenken". Nur weil die USA nicht eingriffen, müsse Großbritannien nicht das Gleiche tun, sagte er dem Times Radio: "Wir müssen nicht dem Denken und der politischen Einschätzung unseres engsten Sicherheitsverbündeten folgen - vor allem, wenn es so falsch ist." Sollte Großbritannien der Rückkehr der Taliban tatenlos zusehen, "wird die Geschichte sehr, sehr hart über uns urteilen", warnte Ellwood.
Blitzoffensive
Nach einer Blitzoffensive durch Afghanistan waren die Taliban am Sonntag bis nach Kabul vorgerückt, der letzten Bastion der afghanischen Regierungstruppen. Die radikalislamische Miliz will innerhalb der "nächsten Tage" die Kontrolle über die Hauptstadt übernehmen und eine "inklusive islamische Regierung" bilden, wie ihr Vertreter Suhail Shahin dem britischen Sender BBC sagte. Präsident Ashraf Ghani hat seinem früheren Stellvertreter Abdullah Abdullah zufolge inzwischen das Land verlassen.
Die Geschwindigkeit des Taliban-Vormarsches seit Beginn des Abzugs der NATO-Truppen im Mai sorgte international für Fassungslosigkeit. Unter Hochdruck arbeiten westliche Staaten, darunter die USA, Großbritannien und Deutschland, an der Rückführung von Botschaftspersonal sowie der Ausreise von afghanischen Ortskräften aus Kabul.
Machtübernahme
Die bevorstehende Machtübernahme durch die Taliban als direkte Folge des militärischen Rückzugs des Westens aus dem Land nannte der Abgeordnete Ellwood "das größte Politik-Disaster seit der Suez-Krise". Die gescheiterte militärische Übernahme der Kontrolle über den Suez-Kanal im Jahr 1956 gilt als enorme Demütigung der einstigen Weltmacht Großbritannien.
Johnson hatte am Freitag betont, dass Großbritannien trotz des Abzugs seiner Botschaftsmitarbeiter Afghanistan "nicht den Rücken kehren" werde. Eine Militärintervention lehnte er jedoch ab. Deren Befürworter müssten "realistisch sein bei der Frage, ob das Vereinigte Königreich die Macht hat, eine militärische Lösung in Afghanistan durchzusetzen".
Dominic Raab
Der britische Außenminister Dominic Raab hat die Taliban zur Gewaltlosigkeit und zur Einhaltung der Menschenrechte aufgerufen. "Habe meine große Besorgnis über die Zukunft Afghanistans mit (dem pakistanischen) Außenminister Qureshi geteilt", schrieb Raab am Sonntag auf Twitter. Es sei von entscheidender Bedeutung, dass die internationale Gemeinschaft in dem Aufruf an die Taliban zur Gewaltlosigkeit und zum Schutz der Menschenrechte vereint sei, so der konservative Politiker weiter.