Gesundheitssystem vor dem Kollaps

Corona: Indien geht der Sauerstoff aus

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Mutationen, Feste und Sportveranstaltungen als Pandemie-Treiber.

Neu-Delhi. Indien kämpft gegen eine gewaltige neue Corona-Welle. Zahlreiche Krankenhäuser senden Hilferufe aus, weil die Intensivstationen überlastet sind und der Sauerstoff zur künstlichen Beatmung zur Neige geht. Die Zahl der Neuinfektionen binnen eines Tages stieg am Sonntag auf einen neuen Höchstwert von fast 350.000, und auch mit 2.767 Toten meldeten die Behörden einen neuen traurigen Tageshöchststand. Die Gründe für den unerwartet heftigen Ausbruch sind vielfältig:

Der Glaube an die Herdenimmunität: Während die Pandemie Anfang 2021 zahlreiche Menschen weltweit zwang, möglichst zu Hause zu bleiben, sanken die täglichen Neuinfektionen in Indien landesweit auf unter 9.000. In dem Land mit 1,3 Milliarden Einwohnern wurden nur noch 80 Todesfälle pro Tag verzeichnet. Das weckte Hoffnungen, dass Indien das Schlimmste überstanden habe.

Blutuntersuchungen legten nahe, dass ein großer Teil der Bevölkerung Antikörper gegen das Virus entwickelt und Indien bereits eine sogenannte Herdenimmunität erlangt habe. Zudem wurde auf die vergleichsweise junge Bevölkerung und die Möglichkeit verwiesen, dass viele Inder durch den Kontakt mit zahlreichen Krankheitserregern besser gegen eine Infektion gewappnet seien als etwa Menschen in Europa.

Neue Virus-Mutation

Möglicherweise aufgrund einer neuen Virus-Mutante stieg die Zahl der Corona-Infektionen dann jedoch seit März sprunghaft an. Allein in den vergangenen sieben Tagen verzeichnete Indien zwei Millionen Neuinfektionen, das sind 58 Prozent mehr als noch in der Woche davor. Als Konsequenz stoppen nun mehr und mehr Länder den Reiseverkehr mit Indien.

Feste und Sportveranstaltungen als Pandemie-Treiber: Als die Fälle im Oktober und November 2020 zu sinken begannen, lockerte Indiens Regierung die Corona-Maßnahmen deutlich: Es wurden wieder Bollywood-Filme gedreht, die Menschen luden zu großen Hochzeitsfeiern und zahlreiche Zuschauer verfolgten im riesigen Narendra-Modi-Stadion, wie Indien England im Kricket besiegte. Zehntausende Bauern beteiligten sich an Protesten gegen neue Agrargesetze, und zahlreiche Gläubige strömten zu religiösen Festen. Bei der Kumbh Mela, einer der größten religiösen Feiern der Welt, drängten sich zwischen Jänner und Mitte/Ende April geschätzt 25 Millionen Pilger dicht an dicht, die meisten ohne Maske. In vielen Bundesstaaten gab es zudem Wahlkampfveranstaltungen, darunter eine von Premierminister Narendra Modi in Kolkata mit geschätzt 800.000 Teilnehmern. Inzwischen wurden die Corona-Beschränkungen in vielen Städten wieder deutlich verschärft.

Keine Vorsorge für Krisenzeiten: Während die Infektionszahlen zurückgingen, versäumten es die Behörden, Indiens seit Jahrzehnten unterfinanziertes Gesundheitssystem zu stärken. In den Krankenhäusern wurden weder die Vorräte an Medikamenten aufgestockt, noch wurden Beatmungsanlagen installiert. Die Produktion des antiviralen Medikaments Remdesivir kam nahezu zum Erliegen, nachdem die Hersteller zwischenzeitlich auf Lagerbeständen sitzen geblieben waren, wie die Zeitung "Indian Express" berichtete.

Mangel an medizinischem Sauerstoff

Experten wiesen bereits seit langem auf einen drastischen Mangel an medizinischem Sauerstoff in Indien hin, der für die Behandlung von Patienten mit schwerem Krankheitsverlauf lebensnotwendig ist. Wie die Nachrichten-Website "Scroll" berichtete, schrieb die Regierung erst im Oktober den Bau von Sauerstoffanlagen in 150 Distrikt-Krankenhäusern aus. Die meisten seien noch immer nicht einsatzbereit. Im Bundesstaat Punjab hingegen warten einem Bericht der Zeitung "Tribune" zufolge 290 neue Beatmungsgeräte ungenutzt in einem Lagerhaus. Die Krankenhäuser hätten sie nicht angefordert, unter anderem, weil das Personal nicht für ihre Bedienung geschult sei.

Die Zentralregierung hat inzwischen ihr Bemühungen verstärkt, Sauerstofflieferungen aus anderen Ländern zu bekommen. Zudem organisierte die Regierung Sonderzüge, um Sauerstoff in die am schlimmsten betroffenen Städte zu bringen.

Impfstoff-Spenden ans Ausland: In einem Akt der Großzügigkeit spendete Indien dutzende Millionen im Land produzierte Impfdosen des Herstellers AstraZeneca an andere Länder. Als die Fallzahlen im Frühjahr dann in die Höhe schnellten, fror Neu-Delhi die Exporte ein, um die eigene Bevölkerung impfen zu können. Bisher wurden knapp 140 Millionen Inder geimpft, ab dem 1. Mai sind alle Erwachsenen zu einer Impfung berechtigt. Allerdings gibt es Berichte, wonach der Impfstoff in einigen Gebieten knapp wird.

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