Trittin spricht von "Komplementär-Regierung" und sagt Parteifreunden aus deutscher Rot-Grün-Erfahrung voraus, dass sie "erst mal eines auf den Deckel bekommen" werden.
Wien/Berlin. Der frühere Chef der deutschen Grünen, Jürgen Trittin, hat sich kritisch über die türkis-grüne Ressortverteilung geäußert. Zwar seien Punkte wie das Kopftuchverbot "für Grüne eigentlich unerträglich", doch würde er selbst "an einer ganz anderen Stelle nachdenklich werden", sagte Trittin der Tageszeitung "Die Presse" (Samstagsausgabe) mit Blick auf die Verteilung der Ministerien.
"Wenn man sagt, man möchte eine ökologische Steuerreform - direkte Steuersätze senken, klimaschädliches Verhalten höher besteuern, dann wird das im Finanzministerium entschieden. Ähnliches gilt für Außen oder Verteidigung und für das Verhältnis zu Europa", sagte Trittin unter Verweis auf die allesamt von ÖVP-Politikern geführten Ministerien. Zugleich betonte Trittin, dass die Grünen "in den Kernbereichen Klimaschutz und Transparenz eine klare Agenda gesetzt" hätten. "Da regiert ihnen auch niemand hinein", sagte der frühere deutsche Umweltminister, der die neue Koalition als "Komplementär-Regierung" charakterisierte.
"Ja, es regieren zwei Parteien, die in vielen Bereichen schlicht das Gegenteil wollen", sagte Trittin. "Was da beschlossen wurde, ist für Grüne eigentlich unerträglich, also das Kopftuchverbot und dieser ganze Quatsch", meinte er mit Blick auf die Passagen zur Migration und Integration. Statt "alles mit Formelkompromissen zuzudecken" habe man gesagt: "Es gibt bestimmte Bereiche, die regeln wir und andere, die regelt ihr. Auch die wirtschaftsliberale ÖVP zahlt ja einen Preis: Denn wenn das umgesetzt wird, was im Klimateil steht, dann kommt man in einen massiven Konflikt mit weiten Teilen der Wirtschaft."
Trittin stimmte zugleich der Einschätzung der aktuellen deutschen Grünen-Chefin Annalena Baerbock zu, dass es so ein Bündnis in Deutschland nicht geben würde. Die Situation in Deutschland sei nämlich anders. "Die Themen sind andere. Und wir könnten uns als größte Volkswirtschaft der EU eine Komplementär-Koalition gar nicht leisten", so Trittin, der auch darauf verwies, dass die Koalitionsvereinbarungen in Deutschland viel präziser seien als in Österreich.
Im Interview mit der Tageszeitung "Kurier" (Onlineausgabe) bezeichnete Trittin die Umsetzung einer ökologisch-wirtschaftsliberalen Steuerreform als Nagelprobe für die türkis-grüne Koalition. Man könne Steuersenkungen für Unternehmen und Klimaneutralität kombinieren, das "setzt aber den Mut voraus, dort, wo man Steuersättze senkt, an anderer Stelle umweltschädliches Verhalten zu verteuern."
Trittin äußerte zugleich Verständnis für die Entscheidung der österreichischen Grünen, eine Koalition mit der konservativen ÖVP einzugehen. Es sei zwar kein Geheimnis, dass sich Sozialdemokraten und Grüne nahe stehen. "Aber wenn Rot-Grün nicht im Angebot ist, muss man umdenken, wenn man die Rechtsextremen von der Regierung fernhalten will."
Aus der eigenen Regierungserfahrung, als die Grünen etwa wegen des Konflikts um den Kosovo-Krieg massiv an Zuspruch verloren, bei den Wahlen 2002 aber dann doch wieder zulegten, könne er den österreichischen Parteifreunden raten: "Lasst euch nicht entmutigen. Das ist die Erfahrung, die wir aus den rot-grünen Zeiten mitgenommen haben. Ja, ihr werdet erst mal eines auf den Deckel bekommen, das ist normal, muss man durchstehen. Am Ende wird abgerechnet."