Kriegsverbrechen:

Migranten-Lager in Libyen angegriffen – 44 Tote

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44 Tote und 130 Verletzte bei Angriff auf Migrantenlager in Libyen.

Tripolis. Bei einem mutmaßlichen Luftangriff auf ein mit afrikanischen Migranten überfülltes Lager nahe der libyschen Hauptstadt Tripolis sind nach UN-Angaben 44 Menschen getötet und etwa 130 weitere verletzt worden. Die Attacke in der Nacht zum Mittwoch fand im Vorort Tajura statt. Es ist der tödlichste Angriff seit der im April angeordneten Offensive des Generals Khalifa Haftar auf Tripolis.

In New York berief der UN-Sicherheitsrat eine Dringlichkeitssitzung ein. Das mächtigste Gremium der Vereinten Nationen wollte sich hinter verschlossenen Türen treffen, teilte die britische UN-Mission mit. Dabei würden "Entwicklungen in Libyen" diskutiert. Nach Angaben einer Sprecherin hatte Großbritannien um das Treffen gebeten.

Die Regierung von Ministerpräsident Fayez al-Sarraj machte Haftars Truppen für die Attacke verantwortlich und bezeichnete sie als Teil einer "Reihe von Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Die Vereinten Nationen müssten das "Kriegsverbrechen" untersuchen. Haftars selbsternannte Libysche Nationalarmee (LNA), die am Montag schwere Angriffe auf Tripolis angekündigt hatte, wies die Vorwürfe zurück und machte die Regierungstruppen verantwortlich.
 

Mehr als 600 Migranten im Lager

In dem Lager in Tajura lebten insgesamt mehr als 600 Migranten unterschiedlicher Nationalitäten, hieß es. In dem getroffenen Lagerteil waren rund 150 männliche Migranten aus verschiedenen afrikanischen Ländern untergebracht, sagte Mabruk Abdel-Hafis, der im Auftrag der Regierung in Tripolis mit Migranten arbeitet. Im April hatten bewaffnete Männer im Süden von Tripolis bereits ein Migranten- und Flüchtlingslager angegriffen und mehrere Menschen verletzt.
 
UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet zeigte sich schockiert. Dass die genaue Lage der Einrichtung an Konfliktparteien kommuniziert worden sei, deute auf ein Kriegsverbrechen hin. Auch der UN-Sondergesandte für Libyen, Ghassan Salame, verurteilte den "feigen" Angriff und sprach von "Kriegsverbrechen". Er rief die Staatengemeinschaft dazu auf, "angemessene Strafen" gegen diejenigen zu verhängen, die den Angriff angeordnet und durchgeführt sowie die dafür benötigten Waffen geliefert hätten.
 
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte im Februar 2011 ein Waffenembargo gegen Libyen verhängt. In der Vergangenheit gab es aber immer wieder Anschuldigungen der verschiedenen Konfliktparteien, dass Länder wie Katar, die Türkei und Russland möglicherweise Gruppen mit Waffen unterstützt haben. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Ägypten sollen Haftars Truppen unterstützen.
 

"Schreckliche Tragödie"

Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" bezeichnete den Angriff auf das Lager am Mittwoch in einer Aussendung als "schreckliche Tragödie, die leicht vermieden hätte werden können". Es sei nicht das erste Mal, "dass Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge ins Kreuzfeuer des Konflikts in Tripolis geraten, der seit Ausbruch Anfang April zu zahlreichen Luftangriffen auf oder in der Nähe von Gefangenenlagern geführt hat". Derzeit würden "pro Person, die in diesem Jahr aus Libyen evakuiert oder umgesiedelt wurde, mindestens zwei Menschen von der libyschen Küstenwache, die von der EU unterstützt wird, nach Libyen zwangsrückgeführt".
 
Amnesty International forderte am Mittwoch eine unverzügliche Untersuchung durch den Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, ob es sich um ein mögliches Kriegsverbrechen handelt.
 
Libyen ist eines der wichtigsten Transitländer für Migranten und Flüchtlinge aus Afrika auf dem Weg nach Europa. Laut UNHCR werden dort fast 6.000 Menschen in Internierungslagern festgehalten, Tausende weitere leben teils versteckt im Land. In die Lager kommen alle, die ohne gültige Aufenthaltspapiere aufgegriffen werden. Dazu gehören auch diejenigen, die die libysche Küstenwache auf Druck der EU bei dem Versuch abfängt, per Boot nach Europa zu gelangen.
 

Blutig ausgetragener Machtkampf

In dem ölreichen Land in Nordafrika herrscht acht Jahre nach dem Sturz des Langzeitmachthabers Muammar al-Gaddafi ein blutig ausgetragener Machtkampf, in den sich zahlreiche Länder einmischen. Mit seinem Sturz brach auch die staatliche Ordnung zusammen. Regionale Milizen, Banden und Islamisten wie die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) nutzten das aus. Bei Kämpfen wurden seit April mehr als 700 Menschen getötet und 4.400 verletzt. Rund 70.000 Menschen wurden durch die Kämpfe vertrieben.
 
Mittlerweile beherrscht General Haftar weite Teile des Landes. Er wird vom libyschen Parlament im Osten des Landes unterstützt. Es beansprucht die Macht ebenso für sich wie die in Tripolis ansässige Regierung von Ministerpräsident Fayez al-Sarraj. Diese wird von den UN unterstützt, hat aber kaum direkte Kontrolle über die Hauptstadt hinaus und stützt sich auf regionale Milizen. Die Aussichten auf eine politische Lösung des Konflikts stehen derzeit sehr schlecht.
 
Haftar hatte seine Macht zuletzt auch mit Drohgebärden gegen die Türkei demonstriert, die die Sarraj-Regierung unterstützt. Haftars Truppen hatten türkische Schiffe und Flugzeuge zu "feindlichen Zielen" erklärt, zudem kamen sechs türkische Staatsbürger vorübergehend in die Gewalt von Haftars Truppen. Nach scharfen Drohungen aus Ankara kamen sie wieder frei.
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