Der IS ist zum Jahreswechsel mächtig in die Defensive geraten.
Experten sehen den "Islamischen Staat" vor dem Jahreswechsel an vielen Fronten in der Defensive. Eine Bezwingung der Extremisten scheint erstmals seit langer Zeit möglich. "An seinen Positionen im Irak und in Syrien ist der IS auf Verteidigung umgeschwenkt", sagt Hisham al-Hashimi (Hischam al-Haschimi), irakischer Jihad-Fachmann. "Er hat die Dynamik verloren, von der er abhängig war, um seine Feinde anzugreifen."
Durchhalteparolen
Eine am Samstag aufgetauchte Audiobotschaft, in der IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi zum Aufstand in Saudi-Arabien und zu Angriffen in Israel aufruft, klingt vor diesem Hintergrund wie Durchhalteparolen des angeschlagenen "Kalifen". Die viel kritisierten Luftangriffe unter US-Führung haben laut Hashimi ihren Teil dazu beigetragen, den IS in die Defensive zu drängen. Frankreich hat seine Angriffe auf IS-Ziele in Syrien nach den Anschlägen in Paris ausgeweitet, Großbritannien schloss sich an. Die russische Luftwaffe attackiert den IS - neben anderen Gegnern der syrischen Regierung - schon seit dem 30. September.
Der IS könne seine Kämpfer daher nicht länger in langen Wagenkolonnen von Front zu Front bewegen, sagt Hashimi. Die Bomben haben viele IS-Stützpunkte, Fahrzeuge und Ölförderanlagen zerstört. Neben ihrer Mobilität hat die Miliz damit auch einen Teil ihrer Finanzierungsquellen verloren. Ausgetrocknet sind auch viele Nachschubrouten, vor allem aber eine Schlüsselressource: Dem "Kalifat" fehle es inzwischen an Selbstmordattentätern, die für ihre Blitzattacken im vergangenen Jahr entscheidend gewesen seien, meint der Experte.
Ramadi verloren
Im irakischen Ramadi hielten IS-Kämpfer am Wochenende nur noch wenige Straßen. Aus Sinjar und Baiji und von der nahe gelegenen Ölraffinerie wurden sie schon verjagt. In der nordöstlichen syrischen Provinz Hasaka wurden die Extremisten von einer arabisch-kurdischen Allianz aus vielen Gegenden vertrieben. In Homs und Aleppo konnten die Truppen von Machthaber Bashar al-Assad - unterstützt durch Moskaus Kampfjets - Erfolge verbuchen.
"Der IS ist auf sein Kernland zurückgedrängt worden", sagt Syrien-Kenner Fabrice Balanche. Er habe nur noch Kraft für örtlich begrenzte Angriffe - vor allem im sunnitisch dominierten Gebiet um den Euphrat in Syrien und im Nordwesten des Irak. Für den erfolgreichen Kampf gegen die Miliz sei es entscheidend zu wissen, dass sie sich dort zurückziehe, wo ihr die Bevölkerung feindlich gesinnt sei - wie in den Kurdengebieten, sagt Balanche.
Ausländische Kämpfer
Für Triumphgefühle der IS-Gegner gibt es allerdings noch keinen Anlass. Es sei zwar richtig, dass die Miliz derzeit nicht in die Offensive gehe, sagt Karim Bitar vom französischen Institut für Internationale und Strategische Angelegenheiten (Iris). "Aber sie zieht noch immer Legionen ausländischer Rekruten an, und sie hat gezeigt, dass sie überall zuschlagen kann."
Auch wenn die größten Landeroberungen des IS mehr als ein Jahr zurückliegen: Die Zahl der "Jihad-Touristen", die sich den Islamisten im Irak und in Syrien anschließen, hat sich 2015 nach Expertenschätzungen auf 27.000 mehr als verdoppelt. Und 20 bis 30 Prozent der ausländischen Jihadisten kehren kampferprobt in ihre Heimat zurück und stellen dort eine enorme Gefahr dar.
Religiöses Chaos
Der IS werde auch weiterhin versuchen, die internationale Koalition durch Anschläge wie jene in Paris zu zersetzen, mit denen er in den Gesellschaften Angst erzeuge, sagt Hashimi. Der IS lege es darauf an, im Westen "Rassismus und religiöses Chaos" zwischen den Muslimen und der übrigen Gesellschaft zu schüren. "Er versucht, den Propagandakrieg zu gewinnen, der ihm mehr Geld und mehr Kämpfer zuspielen wird", meint Balanche.