Militäroffensive

Taliban erobern Afghanistans zweitgrößter Stadt Kandahar

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Die radikalislamischen Taliban haben bei ihrem Vormarsch in Afghanistan die zweitgrößte Stadt Kandahar eingenommen.

. "Kandahar ist vollkommen erobert", so ein Taliban-Sprecher am Freitag im Onlinedienst Twitter. "Die Mujaheddin haben den Märtyrerplatz in der Stadt erreicht." Ein Bewohner sagte, die afghanische Armee habe sich offenbar aus der Stadt zurückgezogen. Bereits zuvor waren die Städte Herat und Ghazni in die Hände der Islamistenmiliz gefallen.

Sollten sich die Angaben bestätigen, wäre Kandahar die elfte Provinzhauptstadt, die innerhalb einer Woche von den Taliban erobert wurde. Aus Washington hieß es am Donnerstag, die USA würden rund 3.000 zusätzliche Soldatinnen und Soldaten zeitweise nach Afghanistan verlegen, um die Sicherheit am Flughafen Kabul zu verstärken.

Rascher Vormarsch

Angesichts des raschen Vormarsches der Taliban forderte der Minderheitsführer der Republikaner im US-Senat, Mitch McConnell, die US-Regierung zu einer sofortigen Verstärkung der Unterstützung für die afghanischen Sicherheitskräfte auf. Falls Präsident Joe Biden seinen Kurs "nicht schnell ändert, sind die Taliban auf dem Weg dazu, sich einen bedeutenden militärischen Sieg zu sichern", warnte McConnell.

Biden müsse den afghanischen Kräften "sofort" mehr Hilfe zusagen, darunter auch anhaltende Unterstützung aus der Luft nach dem Abzug der US-Truppen am 31. August, forderte er. "Wenn das nicht geschieht, könnten Al-Kaida und die Taliban den 20. Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September damit feiern, unsere Botschaft in Kabul niederzubrennen", warnte McConnell am Donnerstag (Ortszeit) mit Blick auf die Gruppen militanter Islamisten. Die Ankündigung der weiteren Reduzierung des Personals der US-Botschaft und die "hastige" Verlegung zusätzlicher Truppen nach Afghanistan "erscheinen wie Vorbereitungen für den Fall Kabuls", so McConnell.

Kritik an Biden

Falls die Taliban in Afghanistan die Macht übernähmen und die Terrororganisation Al-Kaida dorthin zurückkehre, würde das islamistischen Extremisten in der ganzen Welt Auftrieb geben, warnte McConnell. "Die Strategie von Präsident Biden hat aus einer nicht-perfekten aber stabilen Lage innerhalb von Wochen eine große Peinlichkeit und einen globalen Krisenfall gemacht", zürnte der einflussreiche Republikaner. Die Kosten und Konsequenzen von Bidens Handeln würden die ganze Welt betreffen, warnte er.

McConnell erwähnte allerdings nicht, dass bereits Bidens Vorgänger, der republikanische Präsident Donald Trump, mit den Taliban einen Abzug aller internationalen Truppen bis zum 1. Mai vereinbart hatte. Biden verzögerte den Abzug der im Frühjahr noch verbliebenen rund 2500 US-Soldaten, hielt aber im Grundsatz an der Entscheidung fest. Das US-Militär soll Afghanistan bis Ende August verlassen.

Die Taliban hatten bereits zuvor weitere Gebietsgewinne auf ihrem Eroberungszug durch Afghanistan verbucht. Nach Angaben aus Sicherheitskreisen der Regierung fiel die Stadt Herat am Donnerstag in die Hände der Extremisten. Zuvor hatten die Taliban die Provinzhauptstadt Ghazni erobert. Sicherheitskreise in Herat erklärten: "Wir mussten die Stadt verlassen, um weitere Zerstörung zu verhindern" und bestätigten damit entsprechende Angaben der Islamisten. Der Vorsitzende des Provinzrates von Ghazni, Nassir Ahmed Fakiri, seinerseits betonte: "Die Taliban haben die Kontrolle über die wichtigsten Bereiche der Stadt erlangt." Die strategisch wichtige Stadt Ghazni liegt an einer zentralen Verbindungsstraße zwischen Kabul und Kandahar. Auch die Stadt Lashkar Gah sind schwer umkämpft.

Zwei Drittel des Landes

Die USA werden rund 3.000 zusätzliche Soldatinnen und Soldaten zeitweise nach Afghanistan verlegen, um die Sicherheit am Flughafen Kabul zu verstärken. Es gehe darum, die Reduzierung des US-Botschaftspersonals zu unterstützen, erklärte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, am Donnerstag. Dies könne auch die Sicherung von Konvois von und zum Flughafen umfassen. "Das ist eine zeitlich begrenzte Mission mit eng begrenztem Auftrag", ergänzte er. Später kündigte auch Großbritannien an, mehrere Hundert Streitkräfte nach Afghanistan zu schicken, um bei der Rückführung von Briten aus dem Land zu helfen. Der BBC zufolge befinden sich schätzungsweise noch rund 4.000 Briten im Land.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell drohte den Taliban mit Isolation, sollten sie die Macht in Afghanistan mit Gewalt an sich reißen. Zudem forderte der EU-Chefdiplomat die Taliban auf, unverzüglichen wieder Gespräche aufzunehmen und einen dauerhaften Waffenstillstand herbeizuführen. "Die anhaltenden Angriffe verursachen unannehmbares Leid für die afghanische Bevölkerung", erklärte der Spanier am späten Donnerstagabend. Die EU sei bestrebt, eine Unterstützung für das afghanische Volk fortzusetzen. Zudem sei von entscheidender Bedeutung, dass Errungenschaften wie der Zugang von Frauen und Mädchen zu Bildung erhalten blieben.

Die Taliban kontrollieren inzwischen etwa zwei Drittel von Afghanistan. Von US-Geheimdiensten wird nicht ausgeschlossen, dass sie Kabul binnen 30 Tagen isolieren und binnen 90 Tagen übernehmen könnten. In den vergangenen Tagen hatten die Taliban unter anderem Kunduz und Faizabad eingenommen und belagern nun Mazar-i-Sharif. Bei einer Einnahme von Mazar-i-Sharif würde die Regierung in Kabul die Kontrolle über den Norden des Landes endgültig verlieren.

Nach einer neuen Runde der Afghanistan-Friedenverhandlungen in Doha forderten die Teilnehmer mit Nachdruck einen beschleunigten Friedensprozess. Die Gewalt in dem Land müsse sofort aufhören, hieß es am Donnerstag in einer gemeinsamen Erklärung. Beide Seiten müssten so schnell wie möglich Schritte hin zu einer politischen Einigung und einem umfassenden Waffenstillstand unternehmen. An den Gesprächen nahmen neben Unterhändlern der Regierung in Kabul auch Gesandte etwa der USA und der EU sowie Vertreter der radikal-islamischen Taliban teil.

Nach Deutschland und den Niederlanden setzten am Donnerstag auch Frankreich und Dänemark Abschiebungen nach Afghanistan offiziell aus. Bereits seit Anfang Juli habe es keine Rückführungen mehr in den Krisenstaat gegeben, teilte das Innenministerium in Paris mit. Frankreich beobachte die Situation gemeinsam mit seinen europäischen Partnern genau. Das dänische Migrationsministerium erklärte, der Bitte Afghanistans nachzukommen und die Abschiebung von Asylwerbern bis 8. Oktober auszusetzen.

Dänemark hatte noch unlängst gemeinsam mit Österreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Griechenland die EU in einem Brief zu einer Fortsetzung der Abschiebungen nach Afghanistan gedrängt - trotz des Vormarsches der radikalislamischen Taliban.

In Österreich will indes das ÖVP-geführte Innenministerium in Wien weiter an Rückführungen festhalten. Die Grünen stellen sich dagegen. Der grüne Vizekanzler Werner Kogler erklärte laut Aussendung gegenüber oe24.TV, dass Abschiebungen "faktisch nicht möglich" seien "weil es für die Flieger gar keine Landeerlaubnis in Afghanistan gibt". Kogler: "Wie es in Afghanistan zugeht, ist richtig schlimm. Das hat auch Konsequenzen. Auch wenn die eine oder andere Stimme aus dem Innenministerium anderes sagt: Abschiebungen gibt es derzeit nicht nach Afghanistan." Abschiebeflüge seien auch in den nächsten Wochen "so gut wie unvorstellbar".

Für die Fortführung von Rückführungsflügen setzte sich gegenüber Ö1 der FPÖ-Abgeordnete Hannes Amesbauer ein. Für den SPÖ-Parlamentarier Reinhold Einwallner sowie NEOS-Mandatar Helmut Brandstätter hingegen sind Abschiebungen derzeit "unmöglich".

Hunderttausende sind in Afghanistan bereits vor den Kämpfen geflohen. In Kabul ist in den vergangenen Tagen eine große Zahl an Vertriebenen eingetroffen, die nun zum Teil in Parks und auf öffentlichen Plätzen campieren. Der deutsche Staatssekretär Niels Annen erwartet Auswirkungen auch für die Migration nach Deutschland. "Es ist naiv zu glauben, dass der Vormarsch der Taliban und die Gewalt in der Kriegsregion keine migrationspolitischen Folgen hat", sagte Annen der Funke Mediengruppe. "Entscheidend ist nun, dass Deutschland und Europa dabei helfen, die fliehenden Menschen vor Ort in der Region, etwa in Tadschikistan, Iran oder Pakistan, aber auch in Afghanistan selbst zu versorgen. Dafür muss schnell Geld bereitstehen."

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