Auch am 22. Tag nach dem russischen Angriff meldet die Ukraine weiter Kämpfe und Zerstörung.
Im Osten Kiews schlugen nach ukrainischen Angaben in der Nacht auf Donnerstag Trümmerteile einer abgefangenen Rakete in einem Hochhaus ein. Drei Bewohner seien verletzt und weitere Menschen gerettet worden, teilte der Rettungsdienst mit. Tausende konnten indes Mariupol verlassen. Moskau gab indes bekannt, ein Armeedepot in der westukrainischen Region Riwne getroffen zu haben.
Zunächst war in Kiew auch von einem Todesopfer die Rede gewesen. Der Brand in dem 16-stöckigen Gebäude sei gelöscht worden, hieß es. Andererseits soll die ukrainische Armee binnen 24 Stunden sechsmal vier Siedlungen in der selbst ernannten Volksrepublik Luhansk (LNR) beschossen haben. Das berichtete die russische Agentur Tass mit Berufung auf Vertreter der Separatisten in der LNR in der Nacht auf Donnerstag. Dabei sei ein Haus zerstört und eines beschädigt worden, hieß es im Telegram-Kanal des LNR-Vertreters. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.
Viele Tote
Der Gouverneur der nordukrainischen Stadt Tschernihiw berichtete indes von dutzenden Toten in seiner Stadt. Allein am Mittwoch seien 53 Menschen getötet worden, sagte Wjatscheslaw Tschaus am Donnerstag. "Wir erleiden schwere Verluste."
Die ukrainische Regierung meldete weiters den Abschluss von zwei weiteren russischen Kampfflugzeugen vom Typ Suchoi Su-35 und Su-30 über der Region Kiew. An Land konzentrierten sich russische Einheiten demnach vor allem auf die Sicherung ihrer Geländegewinne. Es gebe Bemühungen russischer Truppen, südlich der Stadt Isjum vorzudringen, wohl um eine Offensive in Richtung Slowjansk fortzusetzen. Dabei seien sie aber nicht erfolgreich.
Dagegen berichtete die russische Seite am Donnerstag von Erfolgen "gegen russische Nationalisten" rund um die Großstadt Sjewjerodonezk. Sprecher Igor Konaschenkow berichtete auch von Schlägen gegen ukrainische Truppen in der nahe gelegenen Stadt Rubischne. Im Gebiet Donezk gehe die Offensive ebenfalls weiter, sagte Konaschenkow. Der Vormarsch habe vier Kilometer betragen. Es seien weitere Dörfer eingenommen worden.
Militärdepot getroffen
Zudem gab das Verteidigungsministerium in Moskau bekannt, ein ukrainisches Militärdepot in der westlichen Region Riwne getroffen zu haben. In den vergangenen Tagen hatte es immer wieder Luftangriffe auf Ziele in der Westukraine gegeben, um die Versorgung des Landes mit Rüstungsgütern westlicher Staaten zu treffen. Moskau hatte auch NATO-Rüstungstransporte außerhalb der Ukraine zu legitimen Zielen erklärt.
Der britische Geheimdienst teilte mit, dass der russische Vormarsch in der Ukraine praktisch überall zum Erliegen gekommen sei. Es habe in den vergangenen Tagen nur "minimale Gewinne" zu Land und Wasser sowie in der Luft gegeben, die russische Armee verbuche weiterhin "starke Verluste". Die ukrainische Verteidigung sei "standhaft und gut koordiniert".
Dem Bürgermeister der von russischen Truppen belagerten südukrainischen Hafenstadt Mariupol zufolge werden nun auch Privatautos aus der Stadt gelassen. Insgesamt hätten in den vergangenen zwei Tagen rund 6.500 Autos Mariupol verlassen können, teilte Wadim Bojchenko in der Nacht auf Donnerstag über Telegram mit. Allerdings habe es keine Feuerpause gegeben. Die Menschen seien daher unter Beschuss aus der Stadt gefahren.
Zustände in Mariupol katastrophal
Der Vize-Bürgermeister von Mariupol berichtete von katastrophalen Zuständen in der Hafenstadt. Besonders dramatisch sei die mangelnde Wasserversorgung, sagte Serhij Orlow dem Magazin "Forbes Ukraine". "Ein kleiner Teil der Menschen kann privat Wasser aus Brunnen entnehmen", sagte er in dem Interview, das ukrainische Medien am Donnerstag aufgriffen. Da die Heizungen ohnehin nicht mehr funktionierten, entnähmen manche Wasser aus den Heizungsrohren, um es zu trinken. "Manche sagen auch, dass sie es aus Pfützen nehmen. Als es Schnee gab, haben sie den geschmolzen."
Orlow sagte weiterhin, dass 80 bis 90 Prozent der Gebäude in Mariupol bombardiert worden seien. "Kein einziges Gebäude ist unbeschädigt." Er warf den Russen vor, gezielt Zivilisten zu attackieren, um so eine Kapitulation der Stadt mit ihren zu Kriegsausbruch 400.000 Einwohnern zu erzwingen. Russland beteuert stets, nur militärische Ziele anzugreifen.
Das Schlimmste für ihn sei, den Bewohnern nicht helfen zu können, sagte Orlow: "Eine Mutter ruft an, sie schreit nicht, sie schimpft nicht, sie fragt mit ruhiger Stimme: 'Ich halte mein Kind im Arm, es verhungert, was soll ich tun?' Und du hast keine Antwort auf die Frage." Für besonderes Entsetzen sorgte am Mittwochabend der Bericht über die Bombardierung eines Theaters, in dem Hunderte Zivilisten Zuflucht gesucht haben sollen. Kiew und Moskau machen sich gegenseitig für den Angriff verantwortlich.
Humane Korridore gefordert
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte in einer Videoansprache gesagt, die humanitären Korridore im Land hätten am Mittwoch nicht funktioniert. Auch er sagte, die russische Armee habe den Beschuss nicht eingestellt. Die ukrainische Seite sei zu Evakuierungen bereit, könne die Menschen aber nicht einem Beschuss auf der Straße aussetzen. Bewohnerinnen und Bewohner von Mariupol, denen es trotz allem gelungen sei, in die mehr als 70 Kilometer westlich gelegene Stadt Berdjansk zu kommen, bringe man weiter nach Saporischschja. Selenskyj zufolge sind binnen 24 Stunden mehr als 6.000 Bewohner Mariupols weiterbefördert worden, darunter 2.000 Kinder. Aber auch auf dem weiteren Weg habe es Beschuss in der Region Saporischschja gegeben. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.
Nach Behördenangaben befanden sich in dem von der russischen Armee bombardierten Theater in Mariupol mehr als tausend Schutzsuchende. In dem Drama-Theater hätten "mehr als tausend Menschen Schutz gefunden", bevor die russische Armee es angegriffen habe, teilte der Mariupoler Stadtrat laut AFP am Mittwoch im Messengerdienst Telegram mit. Wieviele von ihnen verletzt wurden oder starben, war weiter unklar.
Der Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" zufolge, sollen sich in dem von russischen Truppen beschossenen Theater in der Hafenstadt Mariupol mindestens 500 Zivilisten aufgehalten haben. Wie das ukrainische Außenministerium erklärt, sollen die russischen Streitkräfte eine Bombe auf die Kultureinrichtung abgeworfen haben. Russland bestreitet laut der russischen Nachrichtenagentur RIA den Angriff. Die genaue Zahl der Todesopfer ist weiter unklar.
Selenskyj gab auch bekannt, dass der von den Invasoren verschleppte Bürgermeister von Melitopol, Iwan Fedorow, wieder auf freiem Fuß sei. Offenbar erfolgte die Befreiung im Rahmen eines Austausches. . "Russland erhielt für seine Freilassung neun Soldaten aus den Jahrgängen 2002 und 2003. Sie sind eigentlich noch Kinder", zitierte die ukrainische Nachrichtenagentur Interfax die Pressesprecherin Selenskyjs, Darya Sariwnaja.