Präsident rief zu Aufbau seines Landes auf.
Nach der Einnahme von Sjewjerodonezk und Lyssytschansk werden die russischen Truppen nach den Worten des führenden Beraters des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj keinen Erfolg mehr verbuchen. "Das ist der letzte Sieg für Russland auf ukrainischem Territorium", sagte Olexij Arestowytsch in einer im Internet verbreiteten Video-Botschaft. Eine Gegenoffensive im Süden des Landes sei möglich.
Die Einnahme der Städte Lyssytschansk und Sjewjerodonezk bedeute, dass 60 Prozent der russischen Streitkräfte im Osten gebunden seien und es für Russland schwierig sei, sie in den Süden zu verlegen, so Arestowytsch. Zudem hätten die russischen Streitkräfte hohe Verluste erlitten. "Und es gibt keine Kräfte mehr, die aus Russland herangeschafft werden können. Sie haben einen hohen Preis für Sjewjerodonezk und Lyssytschansk bezahlt", sagte er. Ein erfolgreicher Gegenangriff auf russische Stellungen im Süden hänge aber auch von den zugesagten westlichen Waffenlieferungen ab, mit denen die Schlagkraft der ukrainischen Streitkräfte erheblich erhöht werden soll. "Es kommt darauf an, wie schnell der Nachschub kommt", erklärte Arestowytsch.
Ähnlich ist auch die Einschätzung britischer Experten. Der Rückzug ukrainischer Truppen aus Lyssytschansk dürfte demnach der Ukraine die Verteidigung ihrer Positionen erleichtern. Der Rückzug sei größtenteils geordnet abgelaufen, hieß es in dem täglichen Geheimdienst-Update zum Ukraine-Krieg des Verteidigungsministeriums in London am Dienstag. Es gebe eine realistische Möglichkeit, dass sich ukrainische Kräfte nun auf eine leichter zu verteidigende, gerade Frontlinie zurückziehen. Die Experten rechnen damit, dass der Kampf und die Region Donezk ähnlich zäh ablaufen werde wie jener um Luhansk.
Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu betonte indes, dass keine Wehrpflichtigen zum Kampfeinsatz in die Ukraine geschickt werden. Russland rekrutiert jedes Jahr rund 400.000 junge Männer zu einem einjährigen Militärdienst. Ihre Behandlung ist ein heikles innenpolitisches Thema.
Der ukrainische Präsident Selenskyj rief dazu auf, rasch mit dem Wiederaufbau des Landes zu beginnen und nicht bis zu einem Ende des russischen Angriffskriegs zu warten. Allein in den Gebieten, aus denen russische Truppen wieder vertrieben worden seien, gebe es Zehntausende zerstörte Häuser. Die Ukraine müsse sich schon jetzt auf den Winter vorbereiten, unter anderem, um die Energieversorgung zu sichern, sagte Selenskyj am Montag in seiner täglichen Videoansprache. Große Teile der Wirtschaft seien von Kämpfen und russischen Angriffen lahmgelegt worden. Tausende Unternehmen stünden still. Zugleich müsse es beim Wiederaufbau um mehr gehen als nur darum, zerstörte Wände wieder hochzuziehen: "Die Ukraine muss das freieste, modernste und sicherste Land in Europa werden."
Unterdessen wurde in der Nacht auf Dienstag in fast der gesamten Ukraine erneut Luftalarm ausgelöst. Aus dem nordöstlichen Gebiet Sumy wurde Beschuss mit Raketen und Granaten gemeldet, der mehrere Menschen verletzt habe. In Mykolajiw im Süden der Ukraine sind in der Früh russische Raketen eingeschlagen. Das berichtete der Bürgermeister Olexandr Senkewytsch. Mykolajiw liegt an der Hauptstraße zwischen Cherson und Odessa. Auch in der Region Donezk sind nach Angaben des dortigen Gouverneurs Pawlo Kyrylenko in der Nacht die Städte Slowjansk und Kramatorsk beschossen worden. "Sie sind jetzt auch die Hauptangriffslinie des Feindes", sagte er. "In der Region Donezk gibt es keinen sicheren Ort ohne Beschuss."
In der Ostukraine verlagerte sich nach dem ukrainischen Rückzug aus Lyssytschansk der Schwerpunkt der Kämpfe ins benachbarte Gebiet Donezk. 13 Orte in der Region seien am Montag beschossen worden, meldete die Nachrichtenagentur Ukrinform unter Berufung auf die ukrainische Polizei. Die ukrainische Armee gab an, mehrere russische Vorstöße abgewehrt zu haben, etwa nördlich von Slowjansk bei Dolyna, bei Nowoluhanske oder an der Grenze zur Region Luhansk bei Bilohoriwka und Werchnjokamjanske. Umkämpft sei ebenso das Wärmekraftwerk Wuhlehirsk westlich des bereits von prorussischen Separatisten eroberten Switlodarsk.
Neuerlich gab es auch Berichte über ukrainischen Beschuss von russischem Territorium, konkret der Grenzregionen Brjansk und Kursk. Der Brjansker Gouverneur Alexander Bogomas schrieb am Dienstag auf Telegram, das Dorf Sernowo sei mit Artillerie beschossen worden, verletzt worden sei aber niemand. Auch aus den betroffenen Kursker Dörfern gab es zunächst keine Informationen über mögliche Opfer. Zudem warf Russland dem Nachbarland am Dienstag vor, Kriegsgefangene gefoltert zu haben. Es seien deshalb Ermittlungen eingeleitet worden, teilte das staatliche Ermittlungskomitee am Dienstag in Moskau mit. Es würden "Fakten unmenschlicher Behandlung" russischer Soldaten geprüft, die in der Ukraine gefangen genommen wurden. Moskau und Kiew hatten in der vergangenen Woche je 144 Kriegsgefangene ausgetauscht.
Etwas südlicher davon seien jedoch russische Einheiten bei Spirne mit massiver Artillerieunterstützung und Luftwaffeneinsatz weiter in Richtung der Stadt Siwersk vorgedrungen. Gebietsgewinne hätten die russischen Truppen hingegen nördlich von Slowjansk bei Masaniwka erzielt. Darüber hinaus seien ukrainische Positionen an weiten Teilen der Front mit Artillerie, Raketenwerfern und Mörsern beschossen worden. Die russische Luftwaffe habe zudem Stellungen ukrainischer Einheiten bombardiert.
Russland verstärkt unterdessen die Anstrengungen, seine Kontrolle über besetzte ukrainische Gebiete zu zementieren. So sollen in der südlichen Region Cherson nach der Einführung des Rubel als Währung und der Ausgabe russischer Pässe auch Verwaltungsstrukturen nach russischem Muster aufgebaut werden. Ziel sei eine Integration in die Russische Föderation, betonte der Vize-Chef der russischen Militärverwaltung, Kirill Stremoussow, beim Nachrichtendienst Telegram. Am Dienstag solle eine neue Regionalregierung die Arbeit aufnehmen. Zum Regierungschef wurde der Ex-Geheimdienstagentur Sergej Elisejew ernannt, der bisher Vizepremier der russischen Exklave Kaliningrad war.
Die russisch installierten Behörden in der südukrainischen Region Saporischschja unternahmen indes Schritte, um der Ukraine gestohlenes Getreide ins Ausland zu verkaufen. Eine entsprechende Vereinbarung sei mit Ländern vor allem im Nahen Osten getroffen worden, meldet die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass. Die Importeure seien allen voran der Irak, der Iran und Saudi-Arabien, berichtet Tass unter Berufung auf Jewgeni Balizki, den Leiter der von Russland eingesetzten Verwaltung in der Region Saporischschja.