Der vorübergehende Waffenstillstand solle dazu dienen, damit Zivilisten aus der umkämpften Hafenstadt am Asowschen Meer erst ins westlich gelegene Berdjansk und dann weiter nach Saporischschja fliehen könnten.
Moskau/Kiew (Kyjiw). Russland hat eigenen Angaben zufolge für diesen Donnerstag eine Feuerpause in der umkämpften ukrainischen Stadt Mariupol zur Evakuierung von Zivilisten angeboten. "Russlands Streitkräfte erklären - ausschließlich zu humanitären Zwecken - am 31. März ab 10.00 Uhr (9.00 Uhr MESZ) eine Feuerpause", sagte Generalmajor Michail Misinzew am Mittwochabend der Agentur Interfax zufolge.
Der vorübergehende Waffenstillstand solle dazu dienen, damit Zivilisten aus der umkämpften Hafenstadt am Asowschen Meer erst ins westlich gelegene Berdjansk und dann weiter nach Saporischschja fliehen könnten. Die ukrainische Seite habe bis um 6.00 Uhr am Donnerstag früh (5.00 Uhr MESZ) Zeit, um ihrerseits eine Feuerpause zu erklären und darüber Russland sowie die Vereinten Nationen und das Internationale Rote Kreuz schriftlich zu informieren. Die Ukraine und Russland hatten sich zuletzt immer wieder gegenseitig beschuldigt, die Flucht von Einwohnern aus Mariupol zu sabotieren.
Zuletzt hatte auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in einem Telefonat mit dem russischen Machthaber Wladimir Putin auf eine humanitäre Hilfsaktion für die seit Wochen von russischen Truppen eingeschlossene Stadt gepocht.
Satellitenbilder aus Mariupol zeigen völlige Zerstörung
Die südostukrainische Hafenstadt Mariupol ist eines der Zentren des russischen Angriffskriegs gegen die frühere Sowjet-Republik. Bei den Kämpfen um den strategisch wichtigen Ort am Asowschen Meer sind nach Angaben des Bürgermeisters bisher rund 5.000 Menschen getötet worden. Der Ort wirkt in weiten Teilen schon jetzt wie eine Geisterstadt.
Bis zum 27. März sind demnach 290.000 Menschen aus Mariupol mit seinen ursprünglich rund 440.000 Einwohnern geflohen. Die übrigen rund 150.000 sitzen augenscheinlich in der Falle, ohne Strom und mit schwindenden Nahrungsmitteln. Warum aber ist die Stadt so umkämpft?
Größte ukrainische Stadt am Asowschen Meer
Mariupol ist die größte ukrainische Stadt am Asowschen Meer, das über die enge Wasserstraße von Kertsch an das Schwarze Meer grenzt. Sie liegt rund 70 Kilometer westlich der russischen Grenze und nur ein paar Kilometer entfernt von den seit 2014 kontrollierten pro-russischen Separatistengebieten im Osten der Ukraine. Den Namen hat die Stadt von Maria Feodorowna, die Frau des russischen Kaisers Alexander III, der Ende des 19. Jahrhunderts herrschte. Für Russland ist die Einnahme der Stadt entscheidend für das Ziel, eine Landbrücke von seinem Festland zur 2014 von der Ukraine annektierten Halbinsel Krim zu bilden.
Dann hätte Russland auch die Kontrolle der gesamten ukrainischen Küste am Asowschen Meer übernommen. Damit aber nicht genug, zielen die russischen Streitkräfte darauf ab, die Ukraine auch vom Schwarzen Meer abzuschneiden. Die Hafenstadt Cherson - rund 380 Kilometer westlich von Mariupol - hat Russland bereits unter seiner Kontrolle. Zuletzt unter Beschuss geraten ist auch die Stadt Mykolajiw westlich von Cherson. Militärische Beobachter sind sich sicher, fällt auch diese Stadt unter russische Kontrolle, ist das nächste Ziel Odessa, der größte Hafen der Ukraine. Dann wäre das Land vom Zugang zum Meer gänzlich ausgeschlossen.
Symbol für den ukrainischen Widerstand
Mittlerweile ist Mariupol zum Symbol für den ukrainischen Widerstand gegen die Angreifer aus Russland geworden. Den Kämpfern dort wird von der ukrainischen Propaganda Heldenstatus verliehen, die einen Kampf ausfechten nach dem biblischen Vorbild von David gegen Goliath. Die ukrainische Regierung, aber auch ausländische Beobachter vergleichen zudem die bisher in Mariupol angerichtete Zerstörung mit der syrischen Stadt Aleppo und der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Grosny, die die russischen Truppen mehr oder weniger dem Erdboden gleichmachten.
Fiele Mariupol, wäre sie die erste größere ukrainische Stadt, die komplett von den Russen kontrolliert würde. Scheiterten die Russen dagegen, wäre dies nach Ansicht von Beobachtern ein massiver psychologischer Rückschlag für die russischen Truppen, deren Moral ohnehin nicht unbedingt hoch ist. Für die Ukrainer wäre ein Sieg über die russischen Truppen dagegen ein immenser Schub für die eigene Moral und die Entschlossenheit, den vermeintlich übermächtigen Gegner niederzuringen.
Angeheizt wird die Symbolik aus russischer Sicht noch von Berichten, dass das sogenannte Regiment Asow in Mariupol kämpft - eine rechtsgerichtete ukrainische Miliz, die Teil der Nationalgarde ist. Ein Sieg der Russen in Mariupol würde entsprechend dem ursprünglich von Präsident Wladimir Putin ausgegebenem Ziel, mit der "Sonderoperation" die Ukraine zu entnazifizieren, einen Schub verpassen. Der Westen weist dieses Narrativ als Begründung für den Krieg allerdings vehement zurück.
Schwere russische Angriffe auf Ukraine dauern an
Entgegen der angekündigten Reduktion der militärischen Aktivitäten in der Nordukraine ist die Stadt Tschernihiw weiterhin von russischen Streitkräften angegriffen worden. "Tschernihiw wurde die ganze Nacht bombardiert", teilte Gouverneur Wjatscheslaw Tschaus am Mittwoch mit. Schwere Angriffe gab es im Osten der Ukraine. Mindestens 15 Tote wurden aus Mykolajiw im Süden gemeldet. Und in Mariupol wurde ein Gebäude des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) angegriffen.
"Die Besatzer haben absichtlich ein IKRK-Gebäude in Mariupol bombardiert", schrieb Ljudmyla Denisowa, Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments. "Feindliche Flugzeuge und Artillerie schossen auf ein Gebäude, das mit einem roten Kreuz auf weißem Grund gekennzeichnet ist, was auf die Anwesenheit von Verletzten oder ziviler oder humanitärer Fracht hinweist", hieß es in der Erklärung. Es gebe noch keine gesicherten Informationen, ob bei dem Angriff Menschen getötet oder verletzt wurden.
In Tschernihiw sei zivile Infrastruktur zerstört worden und die Stadt sei noch immer ohne Wasser und Strom, erklärte Tschaus im Onlinedienst Telegram . "Glauben wir der Ankündigung? Natürlich nicht", schrieb Tschaus mit Blick auf die russischen Aussagen. "Die 'verminderten Aktivitäten' zeigt der Feind in der Region Tschernihiw mit Angriffen auch aus der Luft auf Nischyn und die ganze Nacht über auf die (Stadt) Tschernihiw." Tschernihiw und die gleichnamige Region liegen nordöstlich der Hauptstadt Kiew.
Auch in Kiew selbst und Umgebung waren in der Nacht mehrmals die Sirenen zu hören. "In den letzten 24 Stunden haben die Russen 30 Mal bewohnte Viertel und zivile Infrastruktur in der Region Kiew bombardiert", sagte der Gouverneur der Region, Olexander Pawljuk. Am stärksten betroffen sei der Vorort Irpin, der nach ukrainischen Angaben am Montagabend von den russischen Truppen "befreit" worden war.
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