"Zorn ist riesig"

US-Experte sieht schwarz für Trump

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Selbst eigene Partei wendet sich von Trump ab. Hat Joe Biden die Wahl schon fast gewonnen?

Der Washingtoner Politikwissenschafter und Ex-Vizeaußenminister Daniel Hamilton sieht die Wiederwahlchancen von US-Präsident Donald Trump angesichts der aktuellen Protestbewegung schwinden. "Der Zorn im Moment in den Großstädten ist so riesig. Ich tippe, dass (der Demokrat Joe) Biden gewinnt", sagte Hamilton am Donnerstagabend in einer Onlinediskussion des Renner-Instituts Kärnten.
 

"Zornlücke" bei den Republikanern

Statt einer "Mobilisierungslücke" bei den Demokraten gebe es nun eine "Zornlücke" bei den Republikanern. "Die ganze Welle geht jetzt gegen Trump, auch in der eigenen Partei. Die Republikaner schrumpfen und haben Angst vor ihrem eigenen Präsidenten", sagte der ehemalige Spitzendiplomat. Bidens Vorsprung auf Trump sei größer als jener Hillary Clintons im Jahr 2016. Letztlich werde es auf einen Staat ankommen: Bidens Geburtsstaat Pennsylvania. "Wer Pennsylvania gewinnt, wird wahrscheinlich gewinnen", sagte der Professor an der Johns Hopkins University.
 
Ebenfalls von einem Machtwechsel geht die deutsche US-Expertin Andrea Rotter aus. "Wir können im Januar 2021 Biden sehen und daneben erstmalig in der Geschichte eine Vizepräsidentin", sagte die Mitarbeiterin der CSU-nahen Hanns-Seidl-Stiftung in München. Sie hoffe, dass Biden die Senatorin Kamala Harris zur Stellvertreterin küren wird. Dass er mit einer Frau antreten wird, hat der Ex-Vizepräsident bereits öffentlich versprochen.
 

Biden vor Wahlsieg

"Biden gewinnt und wird im Jänner Präsident, and the United States will be back", sagte auch der in New York tätige österreichische Anwalt Lukas Stahl. Er wies wie die anderen Teilnehmer der Zoom-Diskussion darauf hin, dass die aktuellen Proteste vor dem Hintergrund der Coronakrise und dem damit verbundenen Wirtschaftseinbruch stattfinden. Beide Krisen hätten Afroamerikaner und andere Minderheitenangehörige besonders getroffen, durch höhere Sterblichkeit und höhere Arbeitslosenraten. "In diesem Mix" sei dann "die Ermordung von George Floyd" passiert, erläuterte Stahl. "Das war der Funken, der das Fass zum Explodieren gebracht hat."
 
Der Wiener Politikwissenschafter Heinz Gärtner erinnerte, dass Trump "eine sehr starke Mobilisierungsfähigkeit" habe und 90 Prozent seiner Wähler aus dem Jahr 2016 wieder für ihn stimmen wollen. Allerdings habe er nun "offensichtlich so viele Fehler gemacht", dass ein Großteil der Bevölkerung ihn als "nicht krisenfest" ansehe. Biden müsse aber noch "die Fühler ausstrecken" in Richtung jener Wähler, die sein Vorwahl-Kontrahent Bernie Sanders hinter sich hatte. "Er muss die Jungen mobilisieren. Die müssen zur Wahl gehen", sagte der Universitätsprofessor.
 

Versagen während der Krise

Eigentlich habe Trump mit den Themen Einwanderung, Wirtschaft und Iran in den Wahlkampf gehen wollen. "Das hat sich mit Corona geändert. Er steht da als jemand, der Krisenmanagement nicht betreiben kann, er sucht jetzt Sündenböcke." Innenpolitisch seien dies Vorgänger Barack Obama, seine Demokraten und Linksradikale, außenpolitisch China. "Das ist auch ein Thema, das über die Wahlen hinausweisen wird", beklagte Gärtner das Einschwenken Bidens auf einen Anti-China-Kurs.
 
"Wir gehen auf eine Welt ohne Multilateralismus zu. Das ist eine Situation, die wir vor beiden Weltkriegen hatten: Polarisierung ohne Institutionen", zog Gärtner eine alarmierende Bilanz von Trumps Präsidentschaft.
 
Rotter sagte, dass Trump ohne die Coronakrise wohl außenpolitische Themen in den Vordergrund des Wahlkampfs geschoben hätte. Schließlich habe er viele seiner unter dem Motto "America First" gemachten außenpolitischen Wahlversprechen, insbesondere den Ausstieg aus zahlreichen internationalen Verträgen, eingelöst.
 
Hamilton warnte indes vor übertriebenen europäischen Erwartungen an Biden. Es könnte durchaus sein, "dass er sehr viel mehr von den Europäern verlangen wird als sie erwarten", sagte der US-Experte. Schließlich werde er als neuer Präsident zunächst mit innenpolitischen Dingen beschäftigt sein und weniger Zeit für Außenpolitik haben. Es werde sich daher eher die Frage stellen, "wer kann mehr machen, damit die Amerikaner ihre eigenen Probleme anpacken können."
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