Reporter im Verlies

"Ich war in Nataschas Verlies'"

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Für eine ARD-Doku öffnete Natascha Kampusch erstmals das Haus ihres Entführers.

Nervenbelastung
Der Kleinbus nähert sich Strasshof. Natascha Kampusch sitzt hinter mir, neben meiner Frau. Wir werden die ersten Journalisten sein, die mit ihr das Haus betreten, in dem sie achteinhalb Jahre gefangen gehalten wurde.

Ihr Gesicht verdunkelt sich zusehends. Sie spricht kein Wort mehr. Wirkt unruhig und hoch angespannt.

Natascha ist wortlos
Das Haus. Ein verwilderter Garten. Natascha Kampusch bleibt vor dem Garagentor stehen. Zögert. Schließt es auf. Durchquert die Garage und baut sich mit dem Rücken vor einer Tür auf. Sagt mit gesenktem Blick, dass sie niemanden in die Wohnung lasse. Zu intim die Welt, die ihr aufgezwungen war.

Wir fragen, wo das Verlies sei. Natascha Kampusch zeigt wortlos auf Bohlen, die in den Garagenboden eingelassen sind. Wir räumen sie zur Seite. Eine steinerne, steile Treppe wird sichtbar. Im Schein einer Lampe tasten wir uns nach unten. Alleine.

Ort der Angst
Es ist so weit: Ich krieche dem Grauen entgegen. Um mich herum ist alles schwarz. Kalt. Eng. Und feucht. Modergeruch steigt in meine Nase. Ich müsste den Atem anhalten. Es geht nicht. Ich sauge die Muffigkeit eines Verbrechens in meine Lungen. In schnellen Zügen. Mein Herzschlag hämmert in den Ohren. Ich falle kopfüber aus dem geteerten Tunnel in einen winzigen Vorraum. Links eine bauchige Betontür, 150 Kilo schwer. Wie ein Fettwanst ohne Seele.

Museum für Perverse
Ich richte mich auf, stoße rechts erst eine, dann eine zweite braune Holztür auf. Mache einen Schritt. Und stehe im Verlies. Ein Hochbett. Tischchen. Stuhl. Regale. Spüle. Klo. Ein Kinderzimmer funktionaler Unbarmherzigkeit. Ein Museum für Perverse. Meine Frau nimmt drei Anläufe, dann hat auch sie es geschafft, steht neben mir. Greift ans Bettzeug, weil sie es nicht glauben kann, dass hier ein Mensch geschlafen hat. Begreift, dass es so war. Stürzt in Panik davon. Die Realität ist zu brutal.

Verlies ist der Horror
Ich bleibe. Denke an Nataschas Entführer Wolfgang Priklopil. Was mag in ihm vorgegangen sein, wenn er hinter ihr die schalldichten Türen schloss? In den Zugangsschacht einen schweren Tresor wuchtete, ihn in der Mauer verschraubte und einen Schrank davor schob? Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Ich. Alleine. In dieser engen Betongrube. Kommt er zurück? Oder verrecke ich, einsam, von niemandem bemerkt? Der blanke Horror.

Das Haus ist die Hölle
Ich zwänge mich raus aus diesem gottverdammten Verlies. Haste die Treppen hoch. Natascha Kampusch. Blass. Mit niedergeschlagenen Augen steht sie in ihrem schwarzen Mantel neben meiner Frau. Beide sind stumm.

„Kommen Sie“, sagt sie leise. Und öffnet nun doch die Tür. Wir drei gehen durch die Wohnräume, in denen sie sich aufhalten musste, wenn ihr Entführer es wollte. Unter seiner strengen Aufsicht, bei heruntergelassenen Jalousien. Wir durchstreifen Zimmer, deren Hässlichkeit in düsterer Normalität besteht. Keine Folterbänke, keine Schreckenskammern, keine Waffen. Viel schlimmer. Eine banale Spießigkeit, durch die uns die Fratzen der Unterdrückung, Gewalt und grausamen Machtspiele anspringen. Das Verlies war die Vorhölle. Dies ist die Hölle.

Tränen des Entsetzens
Natascha Kampusch bemerkt unseren Schock. „Lassen Sie uns nach draußen gehen“, sagt sie mit leiser Stimme. Wir folgen ihr. Auf dem Rasen vor dem Haus atmen wir tief durch. Stille. Sprachlosigkeit. Und dann schießen meiner Frau die Tränen in die Augen. Plötzlich. Ohne den nassen Schimmer, der die Tränen sonst ankündigt. Natascha Kampusch ergreift die Hand meiner Frau, streichelt sie. „Ich bin stark, Frau Reichard“, sagt sie.

Ich bin es nicht
Auch ich kann meine Tränen nicht halten. Wir drei umarmen uns. Es ist der wohl anrührendste Moment in meinem Leben.

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