Franz Vranitzky warnt im ÖSTERREICH-Interview vor einer Eskalation.
ÖSTERREICH: Werden die Entwicklungen in der EU in der Asylpolitik – die Alleingänge, das Gegeneinander – nicht gefährlich?
Franz Vranitzky: Die Entwicklungen sind in jedem Fall bedenklich. Hoffen wir, dass sie nicht gefährlich werden.
ÖSTERREICH: Sie waren stets überzeugter Europäer. Die französische „Le Monde“ schrieb, Europa sei bereits „klinisch tot“. Verstehen Sie die Sorge?
Vranitzky: Ja, die EU-Gründerväter würden sich wegen der mangelnden Solidarität, die wir derzeit erleben, im Grab umdrehen. Die EU – zuerst mit den 15, dann mit den 28 Mitgliedsstaaten – sollte ein Friedensprojekt sein, das Krieg in unseren Zeiten verhindert. Jetzt kracht es an allen Ecken. Die EU-Staaten mit ihrer derzeitigen Einstellung werden die Flüchtlingsfragen nicht nachhaltig lösen.
ÖSTERREICH: Was soll, was kann die EU machen?
Vranitzky: Zunächst ist eine gemeinsame Linie nötig. Aber wenn man das Problem wirklich lösen will, muss man die Gründe für Fluchtursachen bekämpfen. Natürlich haben Menschen aus Pakistan oder aus Marokko keine Asylberechtigung. Aber in Syrien, im Irak, die Gefahr durch IS sind Fluchtgründe. Die Fehlbildungen, die durch den Arabischen Winter entstanden sind – denn das war kein Frühling –, können nur durch die Großmächte USA und Russland beendet werden. Bei allen berechtigten Vorbehalten gegen das russische Vorgehen und auch die Vergangenheit der USA, wird es ohne sie nicht gehen.
ÖSTERREICH: Was halten Sie vom Vorgehen der österreichischen Regierung – Pakt mit dem Balkan, Obergrenzen für Asylwerber?
Vranitzky: Dass man Deutschland und Griechenland nicht zur Westbalkankonferenz eingeladen hatte, war natürlich ein schwerer Fehler. Aber bei allem Idealismus, den ich verstehe und den ich durchaus teile, kann sich eine Regierung auch nicht den Realitäten verweigern. Es ist gut, dass die Regierung sagt, dass sie eine EU-Lösung anstrebt.
ÖSTERREICH: Was halten Sie von Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und ihrer Asylpolitik?
Vranitzky: Ich erkenne an, dass sie eine Frau mit Grundsätzen ist und diese Grundsätze auch nicht bei starkem Gegenwind über Bord wirft. Man muss sich ihr inhaltlich nicht anschließen, aber sie zeigt moralische und charakterliche Stärke. Und ich glaube, dass das Eintreten für Grundsätze auch nicht bestraft wird.
Interview: Isabelle Daniel