Corona-Mutationen in Tirol

"Völlig inakzeptabel": Nehammer wütet gegen deutsche Einreiseregeln

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''Systemrelevante'' Tiroler Pendler dürfen weiter nach Deutschland.

Innsbruck/Berlin. Die Bundesregierung kritisiert die verschärften Einreiseregeln an den deutschen Grenzen zu Tirol und Tschechien, um die Ausbreitung besonders ansteckender Corona-Varianten einzudämmen, scharf. "Die de facto Sperre des großen und kleinen deutschen Ecks für Österreicherinnen und Österreicher ist absolut inakzeptabel. Diese Maßnahme von Bayern ist unausgegoren und löst nur Chaos aus", sagte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) am Sonntag in einer Stellungnahme gegenüber der APA.

Außenminister Alexander Schallenberg forderte "Maß und Ziel" strengerer Maßnahmen und warnte vor "überschießenden Schritten, die mehr schaden als nützen. Das habe ich heute auch meinen deutschen und italienischen Amtskollegen Heiko Maas und Luigi Di Maio mitgeteilt", so Schallenberg. Noch am Sonntag würden zudem sowohl der deutsche als auch der Italienische Botschafter zu einem Gespräch im Außenministerium erwartet. Auch der slowakische Außenminister Ivan Korcok intervenierte bei seinem deutschen Amtskollegen Maas. Laut slowakischem Außenministerium ging es dabei um die Testpflicht für Lkw-Fahrer.

Nehammer spricht von "Provokation"

Nehammer kritisierte: "Mit dem Finger auf das Bundesland Tirol zu zeigen, ist vielmehr eine Provokation, als eine geeignete Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie und ihrer Auswirkungen." Der Innenminister sah "auch für die Versorgungssicherheit in weiten Teilen Europas eine Gefahr - die vom bayrischen Ministerpräsidenten wohl bewusst negiert wird. Tirol ist nicht der Parkplatz Europas, sondern vielmehr die bedeutendste Verbindungsachse zwischen dem Süden und dem Norden der europäischen Staaten." Dies habe er dem bayrischen Innenminister Joachim Herrmann telefonisch auch "in aller Klarheit verdeutlicht".

In Tirol gab es mit Stand Sonntag insgesamt 251 Verdachtsfälle der südafrikanischen Coronavirus-Mutation. Die ansteckendere Variante hat sich in Teilen Tirols und vor allem im Bezirk Schwaz stärker verbreitet als anderswo in Europa. Deswegen war am Sonntag das Einreiseverbot für Tiroler nach Deutschland in Kraft getreten. Aus den betroffenen Gebieten dürfen nur noch Deutsche sowie Ausländer mit Wohnsitz und Aufenthaltserlaubnis in Deutschland einreisen. Ausnahmen gibt es für medizinisches Personal, für Lkw-Fahrer und landwirtschaftliche Saisonkräfte.

Ausnahmen gibt es auch für bestimmte Berufspendler, wenn sie gebraucht werden, um den Betrieb in systemrelevanten Branchen aufrecht zu erhalten. Sie müssen dafür bis einschließlich Dienstag ihren Arbeitsvertrag dabei haben. Danach sollen Bayern und Sachsen Betriebe als systemrelevant definiert und individuelle Bescheinigungen ausgestellt haben, die an der Grenze vorgezeigt werden sollen.

"Systemrelevante Pendler" dürfen einreisen

"Für Grenzpendler in systemrelevanten Berufsbranchen soll die Einreise möglich bleiben", sagte der deutsche Innenminister Horst Seehofer. "Wir gehen pragmatisch vor, wo immer das möglich ist." Laut der deutschen Bundesagentur für Arbeit (BA) pendeln 22.000 Tschechen und 9.600 Österreicher nach Deutschland, viele davon im verarbeitenden Gewerbe.
 
Tirols Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) forderte am Sonntag aber weiterhin eine Ausnahme für alle Tiroler Pendler. Die derzeitige Situation sei "absolut inakzeptabel". Zudem sei derzeit "entgegen anderslautender Aussagen das Durchfahren ohne Stopp über das kleine und große deutsche Eck" nicht möglich. Jemand der von Tirol nach Salzburg oder Wien reisen will, müsse nun "großräumig" ausweichen. "Eine solche Vorgangsweise ist weder verhältnismäßig noch sinnvoll", zeigte sich Platter verärgert.
 
Platters Vize Ingrid Felipe (Grüne) stieß ins selbe Horn, immerhin wollen viele Pendler "in wenigen Stunden" in Bayern oder in Salzburg ihre Arbeit aufnehmen. Doch nach wie vor würden viele von ihnen nicht wissen, ob sie morgen und im Laufe der Woche die Grenze passieren können. "Wir fordern daher umgehende Klarheit für die Pendlerinnen und Pendler und die Durchreise über das deutsche Eck", so Felipe.
 
Sie empfahl daher den betroffenen Durchreisewilligen, den Zug bzw. den länger dauernden innerösterreichischen Weg zu wählen. Nach Bayern pendelnde Menschen sollten einen Covid-Test, Dienstvertrag und Dienstausweis mitführen, um die Erwerbstätigkeit zu bezeugen. "Wie die konkrete Umsetzung morgen, Montag, und am Dienstag an der Grenze aussehen wird, ist ebenfalls völlig unklar. Denn noch fehlt vonseiten der deutschen Behörden die Definition der systemrelevanten Berufsgruppen, für welche das Pendeln - unter Mitführung einer solchen Bestätigung und eines negativen Testergebnisses - dann ab Mittwoch erlaubt sein soll", kritisierte Felipe die deutsche Vorgehensweise.

Spahn verteidigte Verschärfungen

Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn verteidigte unterdessen die schärferen Einreiseregeln. "Wir müssen unseren Landkreisen in der Grenzregion die Möglichkeit geben, zur Ruhe zu kommen", sagte Spahn der "Süddeutschen Zeitung". Es gehe bei den Einreiseregeln nicht darum, Haltungsnoten für Nachbarländer zu verteilen, sondern konstruktiv mit der Situation umzugehen. "Und die ist leider in Tschechien, aber auch in der Slowakei und in Tirol aus dem Ruder gelaufen. Wir mussten reagieren", sagte Spahn.
 
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) wies am Sonntag bei einem Besuch in Schirnding an der tschechischen Grenze Kritik an den Maßnahmen zurück. Die Kontrollen bedeuteten nicht das Ende des freien Europas, wie manche sagten. "Was für ein Unsinn." Er sei überzeugt, dass es Europa stärke, wenn es gelinge, eine neue Coronawelle zu verhindern. In Tschechien und Tirol werde zu wenig getan, um die Coronavirus-Infektionen einzudämmen. Der Güterverkehr soll demnach aber weiter rollen.
 
Bayerns Innenminister Herrmann ergänzte in Schirnding, zu den Pendler-Ausnahmebranchen zählten etwa Wasser-und Elektrizitätswerke oder die Lebensmittelproduktion, aber etwa auch Unternehmen, die Spezialgläser für Impfstoffe produzieren. Im Einzelnen müsse an Ort und Stelle darüber entschieden werden. Voraussetzung für die Einreise sei dann aber für alle eine Bescheinigung des Arbeitgebers sowie ein maximal 48 Stunden alter negativer Corona-Test. Zudem müssten sie sich digital vor der Einreise anmelden.

Weder Staus noch längere Wartezeiten

Die Kontrollen hatten in der Nacht auf Sonntag bei frostigen Temperaturen von mancherorts bis zu 20 Grad unter Null begonnen. Laut deutscher Bundespolizei gab es weder Staus noch längere Wartezeiten. "An einem Wochentag, wenn Pendler versuchen einzureisen, wird die Lage sicherlich anders aussehen", sagte ein Sprecher der Grenzpolizei Passau. Der Sprecher der Bundespolizei-Inspektion Rosenheim, Rainer Scharf, sagte in Kiefersfelden an der Grenze zu Tirol: "Wir schauen tatsächlich in jedes Fahrzeug hinein und sprechen die Fahrer an."
 
In den ersten zwölf Stunden der verschärften Einreiseregeln Deutschlands wurden laut der deutschen Bundespolizei München mehr als 500 Menschen als nicht einreiseberechtigt zurückgeschickt. Mehr als 1.700 Menschen seien kontrolliert worden, davon gut 700 an der tschechischen Grenze.
 
Wegen der neuen deutschen Einreiseregeln will Tirol schon ab Sonntag den Lastwagenverkehr aus Italien im Vorfeld kontrollieren und drosseln, um einen extremen Rückstau und einen Verkehrskollaps im Inntal zu verhindern. "Wir lassen es nicht zu, dass Tirol der Parkplatz Europas wird. Aus diesem Grund wird in Abstimmung mit dem Bund eine Verordnung erlassen, die uns Kontrollen bereits am Brenner ermöglicht", hatten Platter und Felipe erklärt.

Gurgiser geht Vorgehensweise nicht weit genug

Für Transitforum Austria-Tirol-Obmann Fritz Gurgiser geht diese Vorgehensweise aber nicht weit genug. Er forderte in einem der APA vorliegenden Brief an das Land Tirol, dass eine Dosierung des Lkw-Transitverkehrs "nicht nur am Brenner, sondern weiter südlich" erfolgen solle und die "Dosierungen bereits in Verona oder noch weiter südlich auf den Überkopfwegweisern der A22 bekannt gemacht werden".
 
EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides hält nicht viel von den schärferen deutschen Einreiseregeln. "Die Furcht vor den Mutationen des Coronavirus ist verständlich. Aber trotzdem gilt die Wahrheit, dass sich das Virus nicht von geschlossenen Grenzen aufhalten lässt", sagte die Politikerin aus Zypern der "Augsburger Allgemeinen" (Montag).
 
Auch Italien hat mit Sonntag die Einreiseregeln für Österreicher verschärft. Reisende aus Österreich nach Italien müssen sich einem Corona-Test und einer 14-tägigen Quarantäne unterziehen, sieht eine neue Verordnung von Gesundheitsminister Roberto Speranza vor. Die italienischen Maßnahmen gelten für jede Person, die sich für einen Zeitraum von mehr als zwölf Stunden in Österreich aufgehalten hat.
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