Der Regierungschef gilt nach neuem Skandal und zwei Ministerrücktritten als stark angeschlagen .
Trotz scharfer Kritik aus den eigenen Reihen macht der britische Premierminister Boris Johnson derzeit keine Anstalten, von seinem Amt zurückzutreten. Sein Job sei es, weiterzumachen, sagte Johnson am Mittwoch in London. In der gegenwärtigen Krise sollte sich die Regierung nicht verabschieden. "Wir haben einen Plan, und wir machen weiter damit", so der konservative Regierungschef. "Wir werden unser Mandat weiter ausüben."
Zum Auftakt der traditionellen Befragung des Premiers im Parlament wies Johnson darauf hin, dass am Mittwoch eine große Steuersenkung für Familien in Kraft getreten sei. "Heute ist ein wichtiger Tag", sagte Johnson. Er entschuldigte sich zugleich erneut dafür, dass er seinen Parteifreund Chris Pincher in ein wichtiges Fraktionsamt gehievt hatte, obwohl er von Vorwürfen der sexuellen Belästigung gegen ihn wusste. Er habe aber sofort gehandelt, als er von neuen Anschuldigungen gegen Pincher erfahren habe, behauptete der Premier.
Zuvor waren die Rücktrittsforderungen an Johnson immer lauter geworden. Mehrere Abgeordnete seiner Konservativen Partei sowie konservative Medien, darunter die Zeitung "Times", forderten den Regierungschef auf, sein Amt aufzugeben. Es gilt als wahrscheinlich, dass Johnsons parteiinterne Kritiker ansonsten die Parteiregeln ändern werden, um den Premier mit einem weiteren Misstrauensvotum abzuwählen.
"Meine Botschaft an Boris wäre: Um Himmels willen, hau ab", sagte der Tory-Parlamentarier Andrew Murrison, der zuvor als Staatsminister für Nordirland zurückgetreten war, am Mittwoch dem Sender BBC. Der bisherige Vize-Generalsekretär der Partei, Bim Afolami, kritisierte Johnsons Vorgehen im jüngsten Skandal um Belästigungsvorwürfe gegen den ranghohen Tory Pincher als "wirklich erschreckend". Er könne dieses Verhalten nicht länger verteidigen, sagte Afolami, der ebenfalls zurücktrat, der BBC.
Auch der Staatssekretär im Familienministerium, Will Quince, kehrte Johnson am Mittwoch den Rücken. "Mit großem Bedauern muss ich feststellen, dass ich keine andere Wahl habe", schrieb Quince in seinem an Johnson gerichteten und auf Twitter veröffentlichten Rücktrittsgesuch. Er fühle sich von Johnsons Büro falsch informiert über den Umgang des Premiers mit dem jüngsten Fall um die Belästigungsvorwürfe. Danach nahm auch der Abgeordnete und als Staatssekretär für Standards an Schulen zuständige Robin Walker seinen Hut. Auch die Abgeordnete Laura Trott legte ihren Posten im Verkehrsministerium zurück.
Der Abgeordnete Chris Skidmore reichte einen Antrag für ein neues Misstrauensvotum gegen den Regierungschef ein und verlangte eine Änderung der Partei-Regularien, die nach dem kürzlich von Johnson überstandenen Misstrauensvotum einen weiteren solchen Schritt vorerst ausschließen. Skidmore forderte das sogenannte "Komitee 1922" der Torys auf, sich dringend mit einer Anpassung des Regelwerks zu beschäftigen. Johnson hatte die Vertrauensabstimmung Anfang Juni überstanden, nachdem er wegen Verstößen gegen Kontaktbeschränkungen zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie kritisiert worden war.
Gleich mehrere Blätter hatten am Mittwoch, Johnson stehe nach knapp drei Jahren Amtszeit am Abgrund. Selbst für den krisenerprobten Johnson werde es schwierig, aus dieser Situation heil herauszukommen, schrieb die "Daily Mail". Die konservative "Times" forderte in ihrem Leitartikel den Premierminister auf, zum Wohle des Landes zurückzutreten - "Game over", das Spiel sei aus. "Jeder Tag, den er im Amt bleibt, verstärkt das Chaos", so die "Times". Johnson habe keine Autorität mehr.
Am Dienstagabend waren sowohl Finanzminister Rishi Sunak als auch Gesundheitsminister Sajid Javid zurückgetreten. Beide verbanden dies mit Vorwürfen gegen den Partei- und Regierungschef, er beschädige den Ruf der Konservativen. Die meisten Kabinettsmitglieder bekannten sich allerdings zu Johnson. Der 58-Jährige ist seit Juli 2019 im Amt und hat schon mehrere Skandale hinter sich.
Auslöser des neuerlichen Politbebens war, dass Johnson Pincher in ein wichtiges Fraktionsamt hievte, obwohl ihm Vorwürfe der sexuellen Belästigung bekannt waren. Vorige Woche trat Pincher zurück, weil er betrunken zwei Männer begrapschte. Die Tories sind nun in offenem Aufruhr. Nur Stunden nach den Rücktritten von Sunak und Javid berief Johnson jedoch zwei Getreue als neue Minister. Johnson hat trotz der langen Reihe von Skandalen und Fehltritten in den Reihen seiner Regierung einen Rücktritt stets abgelehnt.
Der neue Finanzminister Nadhim Zahawi nahm Johnson in Schutz. Der Regierungschef sei integer und "entschlossen, zu liefern", sagte Zahawi dem Sender Sky News. Johnson habe sich für sein Verhalten im Fall Pincher entschuldigt, nun gehe es darum, das Land voranzubringen. Zahawi gilt selbst als möglicher Nachfolger Johnsons, dementierte aber aktuelle Ambitionen.
Mit Spannung war am Mittwoch der Auftritt Johnsons im Parlament erwartet worden, wo er in einer wöchentlichen Anhörung den Abgeordneten Rede und Antwort stehen muss. Er muss sich zudem der Befragung von Vorsitzenden einiger Ausschüsse stellen.