Bloß nicht dran denken oder doch lieber Alkohol trinken? Ein Augenzeugen-Bericht von apn-Journalist Jim Heintz.
Als die Rekordhitzewelle in Moskau begann, riss ich in der Wohnung alle Fenster auf und hoffte auf frische Luft. Herein kamen hauptsächlich Insekten, einmal auch eine neugierige Krähe. Dann folgte der beißende Qualm von den Torfbränden - Übelkeit stieg auf, der Mund wurde trocken. Die Fenster mit feuchten Tüchern zu verhängen, wie von einer medizinischen Kapazität empfohlen, macht die Raumluft bloß noch stickiger. Da ein Ende des Elends nicht abzusehen ist, hilft vielleicht nur noch der Rat eines anderen prominenten Arztes: so wenig dran denken wie möglich.
Auf Sommer nicht eingerichtet
In meinen elf Jahren in Moskau war
die häufigste Frage von Freunden im Ausland: "Ist der Winter dort nicht
hart?" Mag sein. Doch den Winter meistern die Russen souverän: mit
Pelzmützen, Nachmittagen im Dampfbad und langen Abenden mit warmem Wodka am
Küchentisch. Auf Sommer indes ist das Land nicht eingerichtet.
Klimaanlagen sind eine Seltenheit. Viele Wohnungen sind so geschnitten, dass Durchzug ein Ding der Unmöglichkeit ist. Die Backstein- und Betonwände der Häuser speichern die Hitze wie ein Backofen. Selbst Haushaltsgeräte kapitulieren vor den Temperaturen: Eine Kollegin berichtete halb belustigt, halb empört, wie in ihrer Gefriertruhe das Eis schmilzt.
Seit Wochen Hitzewelle
Normalerweise sind diese sommerlichen
Irritationen nur von kurzer Dauer - ein paar Tage 30 Grad, dann regnet es
und kühlt sich auf angenehme 23 Grad ab. Doch dieses Jahr ist alles anders.
Seit Wochen herrscht eine ununterbrochene Hitzewelle mit Temperaturen bis 38
Grad. Moskau schwitzt, wehrlos.
Kein Regenmacher
Bürgermeister Juri Luschkow machte bei früherer
Gelegenheit Schlagzeilen, als er verkündete, das Wetter beherrschen und
Wolken an der Stadtgrenze abregnen lassen zu können, damit Paraden und
andere Großveranstaltungen nicht ins Wasser fallen. Diesen Sommer kann er
nicht den Regenmacher spielen: Klimawissenschaftern zufolge ist die
Luftfeuchtigkeit nicht hoch genug, um künstlich Niederschlag zu erzeugen.
Keine Klima-Anlagen
U-Bahn-Fahrgästen, die in der Regel selbst
die übliche drangvolle Enge schicksalsergeben hinnehmen, reißt jetzt der
Geduldsfaden; sie verlangen, dass die Züge mit Klima-Anlagen ausgerüstet
werden. Die Fahrerei wird von Tag zu Tag schlimmer, weil die Züge, riesigen
Kolben gleich, den Rauch der Brände in den Außenbezirken bis in die Bahnhöfe
der Innenstadt saugen.
Die Reaktion der Behörden lässt nicht gerade hoffen. Das Katastrophenschutzministerium kündigte den Kauf weiterer Löschflugzeuge an - russische Be-200, die die Besten der Welt sein sollen -, doch bis die fertig sind, dauert es Jahre. Die Fernsehnachrichten zeigen ausführlich, wie Spitzenpolitiker sich mit Beamten beraten und sie zu emsigem Tun ermahnen. Präsident Dmitri Medwedew legte Wert auf die Feststellung, dass er sich zwar im Urlaubsort Sotschi aufhalte, aber keine Ferien mache.
Nicht viel denken bei Hitze
Brütende Hitze, beißender Qualm, der
Amtsschimmel - es ist schon ein bisschen viel auf einmal. Ein prominenter
Mediziner warnt, dass zu viel Kopfzerbrechen schädlich sein kann. "Es ist
erwiesen, dass geistige Aktivität in der Hitze das Nervensystem ungünstig
beeinflusst", sagte der stellvertretende Direktor des Bakulew-Herzzentrums
der Medizinischen Akademie laut Nachrichtenagentur ITAR-Tass.
Doch nicht daran zu denken, fällt auch schwer. Die üblichen Fluchtstrategien - Datscha, Trinken - erscheinen diesen Sommer nicht besonders verlockend. Eine Datscha kann großartig sein, aber nur, wenn der Wald rings um das Sommerhaus nicht in hellen Flammen steht. Aus eigener Erfahrung ist zu sagen, dass einige Gläser am Abend nach einer torfrauchgeschwängerten Nachtruhe noch erheblich unangenehmere Nachwirkungen haben.
"Moskau riecht großartig"
Und Nachdenken kann auch
hilfreich sein dabei, die Hitze zu überstehen - wenn man bedenkt, dass große
Teile Russlands viel schlimmer dran sind als Moskau. Die Hauptstadt steht
nicht in Flammen. Die Einwohner quengeln und nörgeln zwar, aber sie müssen
noch nicht vor den Flammen flüchten und verzweifeln wie Tausende Menschen in
den Waldbrandgebieten. Diese Erkenntnis machte sich vorige Tage im Büro
breit, als ich verschwitzt und unleidlich von einem zehnminütigen Gang zum
Einkauf zurückkehrte. Ein Kollege, der den ganzen Tag zwischen Flammen und
Rauch im Waldbrandgebiet 150 Kilometer vor der Stadt zugebracht hatte, kam
herein und rief: "Moskau riecht großartig!"