100.000 Menschen gingen allein in London auf die Straße. Während der Ansprache des Premiers waren die Proteste kaum zu überhören.
Chaos um den Brexit erreicht offenbar eine neue Dimension. Im Raum stehen nun Neuwahlen sogar schon am 10. Oktober oder eine Verlängerung des EU-Austrittstermins bis 31. Jänner 2020. Premier Boris Johnson muss auch parteiintern mit einer Gruppe von Rebellen kämpfen, die jedenfalls einen ungeordneten Brexit um jeden Preis verhindern wollen.
Obwohl Johnson Abweichlern von seiner harten Linie, notfalls am 31. Oktober des Jahres ohne Abkommen aus der EU auszuscheiden, mit Sanktionen gedroht hat, dürfte dies die Rebellen innerhalb der Torys nicht abschrecken. Johnson rief nach Medienberichten Montag abend das Kabinett zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen.
Keine Neuwahlen, keine Brexit-Verschiebung
Johnson will "keinesfalls" eine Verschiebung des EU-Austritts. Johnson erklärte Montagabend in London, er sei überzeugt, dass es beim EU-Gipfel im Oktober einen Deal geben werde. Entschieden wandte er sich gegen Neuwahlgerüchte. "Ich will keine Wahl und Ihr wollt auch keine", so Johnson laut "Guardian".
Er sei jedenfalls durch den bisherigen Prozess, einen Brexit-Deal zu erzielen, ermutigt. Es gebe drei Gründe, warum ein solcher Deal mit der EU wahrscheinlicher geworden sei. Die EU könne erkennen, dass Großbritannien ein Abkommen wolle, zweitens könne die EU sehen, dass Großbritannien eine Vision für den Brexit habe und drittens wisse die EU, dass sich das Vereinigte Königreich auch auf einen No-Deal vorbereite, sagte Johnson in seiner kurzfristig anberaumten Erklärung.
Pfeifkonzert
Der Handlungsdruck für die No-Deal-Gegner ist enorm, weil Johnson dem Parlament eine mehrwöchige Zwangspause verordnet hat, die bereits in der nächsten Woche beginnt. Die Abgeordneten sollen dann erst wieder am 14. Oktober zurückkehren. Sie haben bis längstens Sonntag Zeit, um ihr Gesetzesvorhaben durchs Parlament zu bringen.
Johnsons Pro-Brexit-Rede in Downing Street war begleitet von einem wahren Pfeifkonzert. In ganz Großbritannien haben Zehntausende gegen die von Premierminister Boris Johnson verordnete Zwangspause für das Parlament demonstriert. In Dutzenden Städten gingen Menschen am Samstag auf die Straße - allein in London beteiligten sich den Organisatoren zufolge 100.000 Menschen. Vor der Residenz des Regierungschefs machten die Demonstranten ihrem Unmut mit Trillerpfeifen und Trommeln Luft. Einige schwenkten EU-Flaggen und riefen Slogans wie "Boris Johnson, schäm' Dich". Während seiner Ansprache war dies deutlich zu hören.
Corbyn kämpft gegen No-Deal-Brexit
Während sich Johnson unbeeindruckt zeigte, kündigte Oppositionsführer Jeremy Corbyn verstärkten Widerstand gegen einen ungeregelten Brexit an. EU-Chefunterhändler Michel Barnier äußerte sich unterdessen wenig zuversichtlich, dass ein No-Deal-Brexit noch zu verhindern sei.
Johnson verfügt nur über eine Mehrheit von einer Stimme im Unterhaus. Eine Neuwahl ist daher unumgänglich, wenn Johnson künftig mit einer stabilen Mehrheit regieren will. Die Frage ist, wann sie stattfinden soll. Die Chancen Johnsons, eine Mehrheit zu erreichen, wären nach dem Brexit-Datum höher, weil er dann die Konkurrenz der Brexit-Partei von Nigel Farage nicht mehr zu fürchten hätte. Auf der anderen Seite kann Johnson die Wahl nicht ohne Zutun der Opposition auslösen. Um eine Neuwahl herbeizuführen, braucht der Premierminister die Unterstützung von zwei Dritteln aller Abgeordneten im Unterhaus.
Johnson will die EU nach eigenen Angaben mit der Drohung eines No-Deal-Brexits zu Zugeständnissen zwingen. Er will das bereits drei Mal im Unterhaus gescheiterte Austrittsabkommen nachverhandeln und vor allem die vorgesehene Garantieklausel für eine offene Grenze in Irland (Backstop) streichen und Alternativen vereinbaren. Die EU sagt, sie werde konstruktiv mit Großbritannien arbeiten, sofern konkrete neue Vorschläge vorlägen, bleibt aber im Grundsatz bei dem ausgehandelten Deal. Jedenfalls dürfte ein Vorschlag von Johnson nicht dem Deal widersprechen.
Brüssel hat bisher allerdings vergeblich auf neue Vorschläge aus London gewartet. Es habe über das Wochenende keine neue Entwicklung gegeben, sagte eine Sprecherin der EU-Kommission am Montag. Der britische Unterhändler David Frost wird diese Woche in Brüssel erwartet, voraussichtlich am Mittwoch.