UNO

Kriegsverbrechertribunal spricht Urteil über Ratko Mladic

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Der ehemalige Militärchef gilt als Hauptverantwortlicher für den Völkermord in Srebrenica 1995.

Das UNO-Tribunal für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien (ICTY) wird am Mittwoch (22. November) 27 Jahre nach Ende des Bosnien-Krieges sein Urteil über den damaligen Militärchef der bosnischen Serben, Ratko Mladic, verkünden. Mladic wird für die blutigsten und grausamsten Episoden des dreijährigen Krieges von 1992 bis 1995 verantwortlich gemacht.

Über 70 Massaker

In elf Punkten hat sich der 74-Jährige wegen Völkermordes in der Muslimenklave Srebrenica in Ostbosnien und in sechs weiteren Gemeinden, ferner wegen Vertreibungen, Deportationen, unmenschlicher Behandlung, wegen des dreieinhalbjährigen Beschusses von Sarajevo und der Geiselnahme von UNO-Soldaten zu verantworten. Die Anklage enthielt Angaben über mehr als 70 Massaker in 20 Gemeinden, die Folterung und Misshandlung von Zivilisten in 58 Gefängnissen und Gefangenenlagern in 22 Ortschaften.

Die strategischen Ziele der bosnischen Serben waren es, so die Anklage, Serben in Bosnien für immer von Kroaten und Muslimen (Bosniaken) zu trennen bzw. sie von den Gebieten unter Kontrolle der Serben zu vertreiben. Kotor-Varos, Kljuc, Prijedor, Sanski Most, Vlasenica, Foca und allen voran Srebrenica waren Gemeinden, in denen unter dem Kommando von Mladic Völkermord begangen werden sollte.

8.000 Tote

In Srebrenica geschah es auch so: Die ostbosnische Kleinstadt steht seit dem Kriegsende für das größte Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach der Einnahme der damaligen UNO-Schutzzone im Juli 1995 ermordeten bosnisch-serbische Truppen unter dem Kommando Mladics rund 8.000 muslimische Männer und Buben in der Umgebung. Ihre Leichen wurden nach Kriegsende in mehr als 70 Massengräbern entdeckt. Nach 900 bis 1.000 Opfern der Massaker wird noch gesucht. Das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag stufte die blutigen Ereignisse 2004 als Völkermord ein. Einige Jahre später tat dies auch das höchste UNO-Gericht, der Internationale Gerichtshof (IGH).

Insgesamt wird die Zahl der Opfer des Bosnien-Krieges auf 100.000 Menschen geschätzt. Alleine beim Beschuss von Sarajevo durch Mladics Truppen starben etwa 10.000.

16 Jahre Flucht

Mladic wurde erst nach 16 Jahren auf der Flucht am 26. Mai 2011 in dem serbischen Dorf Lazarevo in der Provinz Vojvodina festgenommen. Der Prozess vor dem UNO-Tribunal lief vom 16. Mai 2012 bis zum 15. Dezember 2016. Die Ankläger verlangten in ihrem Schlussplädoyer die Höchststrafe für den Angeklagten: lebenslange Haft. Seine Verteidiger plädierten auf Freispruch und versuchten in den vergangenen Monaten, die Urteilsverkündung mit Blick auf gesundheitliche Probleme Mladics hinauszuzögern. Mladic selbst zeigte sich während des Prozesses zu den gegen seine Person erhobenen Vorwürfen unbeeindruckt. Das UNO-Tribunal sei ein "NATO-Gericht" und schlicht voreingenommen, erklärte er.

Die Anklage gegen Mladic ist mit jener identisch, auf deren Basis bereits der frühere Präsident der bosnischen Serbenrepublik (Republika Srpska), Radovan Karadzic, im Vorjahr zu 40 Jahren Haft verurteilt wurde. Drei hochrangige bosnisch-serbische Ex-Offiziere - Vujadin Popovic, Ljubisa Beara und Zdravko Tolimir - erhielten zuvor wegen des Völkermordes in Srebrenica lebenslange Haftstrafen. Mehrere andere Offiziere kamen vor dem Haager Tribunal mit mehrjährigen Haftstrafen davon. Zuletzt ist nun jener Mann an der Reihe, der als Hauptverantwortlicher gilt.

Der Völkermord von Srebrenica - Die ewig offene Wunde

Für Chefankläger Serge Brammertz wird Mittwoch (22. November), wenn das UNO-Kriegsverbrechertribunal zum früheren Jugoslawien über den serbischen Ex-General Ratko Mladic (75), genannt der "Schlächter vom Balkan", sein Urteil fällt, ein historischer Tag. "Ein Meilenstein in der Geschichte des Gerichts", sagt Brammertz.

22 Jahre nach dem Bosnien-Krieg endet damit ein Kapitel. Es ist das letzte Urteil des UNO-Tribunals zum Völkermord von Srebrenica.

Symbol des Krieges

Srebrenica wurde zum Symbol des Kriegs (1992-95). Er kostete mehr als 10.000 Menschen das Leben, Millionen wurden vertrieben. Bei der über 44 Monate dauernden Belagerung von Sarajevo etwa wurden mindestens 10.000 Menschen getötet. Und dann Srebrenica: Im Juli 1995 hatten serbische Einheiten unter General Mladic die UNO-Schutzzone überrannt und dann etwa 8.000 muslimische Buben und Männer ermordet.

Bis heute ist unfassbar, dass nach dem Zweiten Weltkrieg auf europäischem Boden solche Verbrechen verübt werden konnten. 2016 war dafür bereits der politisch Verantwortliche, Radovan Karadzic, in erster Instanz zu 40 Jahren Haft verurteilt worden.

Ex-General Mladic war militärisch verantwortlich, und etwas anderes als einen Schuldspruch und eine lebenslange Haftstrafe ist für die Opfer undenkbar und für Beobachter kaum vorstellbar. Zu groß ist die Beweislast, zu schrecklich sind die Verbrechen.

530 Prozesstage, fast eine Million Seiten Prozessakten, 377 Zeugen. Im Gerichtssaal schildern Zeugen das Grauen von damals. Da war der Mann, dessen Frau in Sarajevo auf dem Marktplatz von Scharfschützen beim Milchholen erschossen worden war. Oder das junge Mädchen, das wochenlang - immer wieder und wieder - von Gruppen von Soldaten vergewaltigt wurde. Oder der Mann, der das Massaker von Srebrenica nur überlebte, weil er sich tot stellte und unter den Leichenbergen verbarg.

Sekundärgräber

Leichen waren zerstückelt und auf verschiedene "Sekundärgräber" verteilt worden. Noch immer wurden nicht alle Toten gefunden und identifiziert. Noch im Dezember 2015 war ein Massengrab entdeckt worden - verborgen unter einer Mülldeponie.

Der Völkermord und die Vertreibung der bosnischen Muslime mit dem zynischen Begriff "ethnische Säuberung" waren Teil einer Kampagne mit dem Ziel eines Groß-Serbien. Außer Karadzic und Mladic war dafür auch der Ex-Staatspräsident von Jugoslawien, Slobodan Milosevic, verantwortlich. Doch er starb 2006 in seiner Zelle an einem Herzinfarkt, noch vor dem Urteil.

Haben die Prozesse bei der Aufarbeitung geholfen? Chefankläger Brammertz schüttelt den Kopf. "Es gibt immer noch Politiker in Serbien, die den Genozid leugnen. Wie soll es da jemals zu einer Aussöhnung kommen?"

Serbien tut sich schwer mit seinem kriegerischen Erbe. Ausgangspunkt der selbst ansatzweise nicht aufgearbeiteten Vergangenheit ist Ratko Mladic. Bis heute gilt er in weiten Teilen der Bevölkerung noch als Kriegsheld, der seine Landsleute in Bosnien nur vor dem sicheren Untergang bewahrt hat. Das kleine Serbien habe so einer "Weltverschwörung" unter Führung Deutschlands, Österreichs und des Vatikan heldenhaft Widerstand geleistet - so das verworrene Weltbild.

Wen wundert es da noch, dass die Mladic-T-Shirts ein Dauerbrenner sind auf jedem Volksfest und in den Souvenirgeschäften Belgrads.

Tribunal Feindbild der Serben?

Das UNO-Tribunal ist für Serbien schon lange eines der größten Feindbilder. Das Gericht habe einseitig gegen Serben gearbeitet, sagte erst vor wenigen Tagen Regierungschefin Ana Brnabic in Belgrad. Damit habe es nicht zur Versöhnung, sondern im Gegenteil zur Verschärfung der Konflikte auf dem Balkan beigetragen. Die Belgrader Zeitung "Informer", Sprachrohr von Präsident Aleksandar Vucic, titelte kürzlich: "Das Haager Gericht vergewaltigt offen das Recht".

Die serbische Politik leugnet bis heute den Völkermord in Srebrenica. Erst heuer wurden acht ehemalige Spezialpolizisten in Belgrad angeklagt, weil sie 1.313 muslimische Zivilisten ermordet haben sollen. Der Prozess wurde allerdings schnell unterbrochen und muss von vorn beginnen.

Angesichts dieser Realität macht sich Ankläger Brammertz keine Illusionen. Ein Gericht könne nicht für Versöhnung sorgen, sagt er. "Aber ohne Gerechtigkeit fehlt die Basis für Versöhnung."

Nicht nur auf dem Balkan, auch für die UNO bleibt Srebrenica eine offene Wunde. Denn die Staatengemeinschaft hatte den Völkermord nicht verhindert, und niederländische UNO-Soldaten hatten sich den Truppen von Mladic kampflos ergeben. Kurz nach der Einnahme von Srebrenica prosteten sich der bullige General und der niederländische Kommandant des Blauhelm-Bataillons, Thom Karremans, mit Schnapsgläsern zu. Das Foto von dieser Szene ging als Bild der Schande um die Welt.

Wer wurde verurteilt und wer nicht

Das UNO-Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien in Den Haag erhob Anklage gegen 20 Männer für die Verbrechen in Srebrenica. Bisher wurden 15 Angeklagte für schuldig befunden. Es gab einen Freispruch. Ein Angeklagter starb während des Prozesses.

Neben Ex-General Mladic gilt der frühere Serbenführer Radovan Karadzic als Hauptverantwortlicher. Er wurde im März 2016 zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt. Das Berufungsverfahren läuft noch.

Drei Männer wurden bisher zu lebenslanger Haft verurteilt. Darunter ist Vujadin Popovic, Ex-Sicherheitschef des berüchtigten Drina-Korps der bosnisch-serbischen Armee. Andere ehemalige hohe bosnisch-serbische Offiziere wurden wegen Beihilfe zum Genozid zu Haftstrafen von bis zu 35 Jahren verurteilt.

Der frühere Präsident Jugoslawiens, Slobodan Milosevic, starb vor Abschluss des Prozesses 2006 in seiner Zelle in Den Haag.

Nur wenige Angeklagte gaben ihre Schuld zu. Dazu gehörte Drazen Erdemovic, der an Erschießungen beteiligt war und später gegen andere Offiziere aussagte. Er wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Ein Ex-Offizier der jugoslawischen Armee wurde als einziger aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

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