Flüchtlinge im Libanon

"Niemand weiß, wann das Ganze explodiert"

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Inzwischen ist im Libanon jeder Dritte ein Flüchtling.

"Lasst uns alle Grenzen niederreißen ... es ist Frieden, Frieden, was wir wollen!" Das von libanesischen und syrischen Kindern in blauen Schuluniformen gemeinsam vorgetragene Lied hat etwas unglaublich Rührendes und bringt Wärme in den sonst so kühlen Theatersaal der katholischen St.Vinzenz-Volksschule im libanesischen Bergort Broumana.

Gelebte Utopie
Doch zugleich ist das, was innerhalb der dicken Klostermauern passiert, ein Stück gelebte Utopie. Die offenen Grenzen, die Integration syrischer Flüchtlinge, der Frieden - all das ist der libanesischen Realität ebenso entrückt, wie das hoch über Beirut thronende und von Pinienwäldern umgebene Broumana, wo im Sommer reiche Libanesen und Golfaraber eine Auszeit vom Alltag nehmen.

Die Realität das sind seit Jänner für den Großteil der syrischen Schutzsuchenden geschlossene Grenzen und ein Land, in dem die Spannungen zwischen Libanesen und Syrern ebenso zu eskalieren drohen wie zwischen Sunniten und Schiiten, die jeweils rund 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

1,1, Mio. Flüchtlinge
Knapp 1,1 Million syrische Flüchtlinge waren Ende November beim UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR im Libanon registriert. Dazu kommen noch einmal geschätzte 500.000 Menschen, die sich nie registrieren ließen und seit der Grenzschließung durch die libanesischen Behörden auch nicht mehr registriert werden dürfen. Macht insgesamt 1,6 Millionen Flüchtlinge. Mit den rund 500.000 Palästinensern, die 1948 aus dem südlichen Nachbarland Israel flohen und seither nicht mehr zurückgekehrt sind, sogar mehr als zwei Millionen. Für den kleinen Küstenstaat Libanon mit seinen laut Weltbank rund 4,5 Millionen Einwohnern bedeutet das, dass auf zwei Libanesen ein Flüchtling kommt. Auf Österreich umgelegt wären das fast drei Millionen Flüchtlinge. Nur auf einer wesentlich geringeren Fläche: das Land ist gerade einmal so groß wie Kärnten.

Kein Wunder also, wenn im Libanon alles immer knapper wird: Wasser, Strom, Arbeitsplätze. In der Hauptstadt Beirut türmt sich der Müll in weißen, blauen und schwarzen Säcken, weil die Entsorgung schon seit Monaten nicht mehr funktioniert, viele Geschäfte haben die Rollläden heruntergelassen, westliche Touristen sind eine Seltenheit. Das Wirtschaftswachstum ist laut libanesischer Zentralbank von acht Prozent vor Beginn des syrischen Bürgerkrieges 2011 auf mittlerweile null Prozent gesunken, die Arbeitslosigkeit im selben Zeitraum von 11,3 Prozent auf 25 Prozent gestiegen. Strom gibt es in Beirut nur noch für 16 Stunden pro Tag, in den Bergdörfern sind es oft nur sechs, im Sommer bricht die öffentliche Wasserversorgung regelmäßig zusammen. Wer kann, leistet sich einen Generator und private Wasserlieferungen, alle anderen bleiben außen vor.

Armut verdoppelt
Und das sind im fünften Jahr des Bürgerkriegs im Nachbarland immer mehr. Mittlerweile würden auch zunehmend Libanesen an der Krise leiden, die Armutsrate habe sich seit Beginn des Syrienkriegs verdoppelt, sagt Bruno Atieh. Der 31-jährige ist Direktor des Flüchtlingsbüros der libanesischen Caritas und zunehmend pessimistisch. "Wir schaffen es gerade noch irgendwie zu überleben", meint er. Aber in den letzten Monaten hätten die Spannungen im Land zugenommen und auch wenn es laut UNHCR bisher noch kaum zu gewalttätigen Ausschreitungen kam, "weiß niemand, wann das Ganze explodiert". "Wenn wir in den nächsten Monaten keine Lösung finden, wird das System zusammenbrechen", warnt auch Caritas-Präsident Paul Kharam.

Zusätzlich verschärft wird die Situation durch das schwierige Verhältnis der Libanesen zum "Brudervolk" in Syrien. Nach dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs (1975 - 1990), während dessen Christen gegen Muslime kämpften, hielt die syrische Armee das Land 15 Jahre lang besetzt, Plünderungen, willkürliche Verhaftungen und Folter standen auf der Tagesordnung. Erst nach dem wohl von Damaskus in Auftrag gegebenen Mord am anti-syrischen Ex-Premier Rafik Hariri 2005 und den darauffolgenden Massendemonstrationen zogen die Besatzer ab.

Demütigungen
Die Erinnerung an die Demütigungen durch die syrische Armee sind freilich auch zehn Jahre danach noch äußerst lebendig. "Es gab schon viele, die froh waren als der Krieg in Syrien ausgebrochen ist", sagt die Oberin der Schule in Broumana. Sie gehört dem einst sehr mächtigen Franjieh-Clan an, der mit Suleiman Kabalan Franjieh von 1970 bis 1976 den Präsidenten des Libanons stellte und im Bürgerkrieg von christlichen Milizen fast ausgerottet wurde. "Wir hätten unsere Grenzen geschlossen halten sollen", sagt sie nun, obwohl ihre Schule mehr als hundert syrische Flüchtlingskinder aufgenommen hat. "Viele haben Angst, dass mit den Syrern dasselbe geschieht wie mit den palästinensischen Flüchtlingen, dass sie für immer bleiben und die Zusammensetzung unserer Gesellschaft verändern."

Dieses Szenario ist durchaus realistisch und hat vor allem aus christlicher Sicht etwas sehr bedrohliches. Der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung ist in der Vergangenheit kontinuierlich gesunken. Lag er Mitte des 20. Jahrhunderts noch bei gut 50 Prozent, gehen Schätzungen heute von 30 bis 39 Prozent aus. Da es sich bei den syrischen Flüchtlingen vor allem um Muslime und großteils um Sunniten handelt, befürchten vor allem Christen, das Kräfteverhältnis der Religionen könnte sich einmal mehr nachhaltig verändern. Umso mehr als die Religion im Libanon eng mit der Politik verbunden ist und sich die Parteien zu einem anti-syrischen Bündnis (14. März, sunnitisch und christlich) sowie einem pro-syrisches Bündnis (8. März, schiitisch und christlich) zusammengeschlossen haben.

Damit nicht genug, ist der Libanon geopolitisch seit jeher Spielball internationaler Mächte, mit vorrangig dem Iran (schiitisch, Hisbollah) und Saudi-Arabien (sunnitisch), die um Einfluss ringen. Dies zeigt sich etwa darin, dass es vor allem an der fehlenden Einigung zwischen den beiden Staaten liegt, dass nach 32. Wahlgängen und einem seit Mai 2014 vakanten Posten des Staatsoberhauptes, sich das Parlament immer noch nicht auf einen neuen Präsidenten einigen konnte.

Rivalität
Die Rivalität zwischen Teheran und Riad wiegt freilich in Zeiten des syrischen Bürgerkriegs doppelt schwer und spätestens mit dem offiziellen Eintritt der Miliz der schiitischen Regierungspartei Hisbollah in den syrischen Bürgerkrieg Anfang 2013 ist die Angst vor einem Übergreifen des Konflikts groß. Bereits jetzt wirft der Krieg im Nachbarland immer wieder seinen Schatten über das Nachbarland. Bombardements der syrischen Luftwaffe im Grenzort Arsal, über den die Waffenlieferungen an sunnitische Rebellen aber auch an Terrormilizen wie den "Islamische Staat" IS oder die al-Nusra-Front laufen, gehören fast zum Alltag. In der Hafenstadt Tripoli bekämpfen sich schiitische und sunnitische Milizen regelmäßig und erst vor wenigen Wochen wurden bei einem Bombenanschlag des IS in einem Hisbollah-Viertel Beiruts mehr als 40 Menschen getötet.

"Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Konflikt übergreift", ist Erik van Ommering, ein Niederländer, der seit acht Jahren im Libanon lebt, überzeugt. "Was mich am meisten besorgt, sind aber nicht die Bomben, sondern das Gefühl der zunehmenden Unsicherheit, das steigende Misstrauen zwischen den Bevölkerungsgruppen", sagt van Ommering, der für die österreichische Caritas arbeitet. Seit Beginn des Syrienkriegs hat die Kriminalitätsrate um 30 Prozent zugenommen, in die Höhe treibt sie großteils Kleinkriminalität wie Raub, Diebstahl oder Einbrüche. "Ich lebe im Süden des Landes, dort haben die Menschen bis vor Kurzem ihre Türen nie zugesperrt, jetzt sind überall Schlösser", erzählt er. "Meine sunnitischen Schwiegereltern sind beide Zahnärzte. Früher kamen alle zu ihnen, jetzt nur noch Sunniten."

Hoch über dem ganzen Chaos, der Angst und der Verzweiflung singen die Kinder im noch immer kalten Theatersaal von Broumana mittlerweile "We are the World" auf Französisch und Englisch: "There's a choice we are making, we're saving our own lives." (Wir treffen eine Entscheidung, wir retten unsere eigenen Leben.) Wenig später wird Caritas-Präsident Paul Kharam ein paar Meter weiter Papst Franziskus zitieren: "Der Libanon ist mehr als ein Land, er ist eine Botschaft." Noch besteht die Hoffnung, dass der Libanon den konfessionellen und geopolitischen Turbulenzen, die ihn schon so oft erschüttert haben, diesmal trotzen kann. Doch dafür muss Europa die Botschaft hören und darf den Libanon in der Flüchtlingskrise nicht allein lassen.
 

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