Gesundheitsministerium fürchtet Infektionen von einem Drittel der Tschechen bis Silvester
In Tschechien setzt sich der raketenhafte Anstieg der Infektionszahlen ununterbrochen fort. Für gestrigen Donnerstag wurde in dem 10,7-Millionen-Nachbarland ein neuer Tagesrekord gemeldet - 3.130 neue Fälle und die Experten rechnen mit einem weiteren Anstieg in den kommenden Tagen und Wochen.
Im schlechtesten Fall geht das Prager Gesundheitsministerium davon aus, dass Tschechien bis Silvester am 31. Dezember insgesamt 3,6 Mio. bestätigte Fälle registrieren wird.
"Situation ist nicht gut"
"Die epidemiologische Situation ist nicht gut. Die Epidemie nimmt an Kraft zu", warnte Gesundheitsminister Adam Vojtech, der an die Öffentlichkeit appellierte, die Hygienemaßnahmen gründlich einzuhalten. Mittlerweile sprich die Regierung von einer exponentiellen Verbreitung des Coronavirus und zieht prompt die Notbremse. Die Maskenpflicht wird erweitert und die Öffnungszeiten der Restaurants und Nachtclubs beschränkt. Weitere Restriktionen werden nicht ausgeschlossen, allerdings denkt man in Prag nicht an eine Ausgangssperre und Schließung der Wirtschaft wie im Frühjahr.
Die Kritiker nehmen es aber gerade der Regierung übel, dass sich die Situation im Land so rasant verschlechtert. Im August hatten nämlich die Hygieniker eine mäßige präventive Verschärfung der Maßnahmen für den Beginn des Schuljahres am 1. September geplant. Das Gesundheitsministerium veröffentlichte auch eine diesbezügliche Verordnung, allerdings griff Ministerpräsident Andrej Babis persönlich ein. Die Verordnung wurde deutlich gemildert. Kritiker meinen, dass Babis offenbar die Wähler vor den Regional- und Senatswahlen Anfang Oktober nicht verärgern wollte.
Politische Fehler
Babis gestand unlängst einen "Fehler" ein. "Im Juni hatten wir das Gefühl, dass das Coronavirus weg ist. Leider haben wir uns geirrt", sagte er und fügte hinzu, die Menschen hätten sich damals beschwert, dass die Regierung ihnen Maulkörbe anlegen wolle und dass Unternehmen beschränkt würden. Jetzt schreien jene am meisten, die früher nach Lockerungen gerufen hätten, so der Ministerpräsident.
Unterdessen mehren sich in Tschechien die Stimmen, dass die Behörden die Kontrolle über die Situation verlieren. Die Kapazitäten der Teststationen zeigen sich als unzureichend, die Zahl der Tests stieg bis auf die jetzige Obergrenze von 18.000 täglich an. Für einen Termin muss man bis zu einer Woche warten, an Ort und Stelle muss man stundenlang Schlange stehen. Die Regierung rät deswegen von freiwilligen Tests ab. "Für einen Test sollte man einen klaren Grund haben", so Vojtech, der jedoch einen Ausbau der Kapazitäten versprach.
Viel besser ist die Situation nicht einmal in Sachen Bekanntgabe des Testergebnis. Nicht selten erfahren die Menschen das Ergebnis viel später als in den vorgeschriebenen 48 Stunden. Dies sowie die Wartezeiten halten unterdessen die Menschen davon ab, sich testen zu lassen, auch wenn sie offensichtlich Symptome zeigen. Man werde das "irgendwie zu Hause überstehen" und auch müsse man Freunde und Mitarbeiter nicht als Kontakte melden, ist das Motto.
Wie ernst die Situation in Tschechien ist, könnte man auch an einer Aussage des renommierten tschechischen Hygienikers Roman Prymula ablesen. Er bezeichnete in einem Interview den in Russland schon eingesetzten, im Westen aber mit Skepsis betrachteten Impfstoff "Sputnik" als "nicht schlecht".
Mit Unwillen nimmt Tschechien den Vorgang mehrerer EU-Staaten zur Kenntnis, die tschechische Regionen oder das gesamte Land auf die "rote Liste" zu setzen. Vor allem seitens der Slowakei war das auch für Babis eine unangenehme Überraschung. Er sprach zwar von "Verständnis", weil die Koalition seines slowakischen Amtskollegen Igor Matovic "zerbrechlich" sei. Gleichzeitig warf er der Slowakei vor, "viel weniger als Tschechien zu testen". Matovic konterte, man drücke Tschechien die Daumen, allerdings könnte die Slowakei "noch härter vorgehen, falls sich die Situation in Tschechien weiter verschlechtert".
Tschechien selbst geht mit seinem eigenen "Reise-Ampelsystem" lieber vorsichtig um. Nur Spanien steht jetzt auf der tschechischen Reisewarnungsliste. In der vergangenen Woche wurde Rumänien heruntergenommen - offensichtlich nicht, weil sich die Situation in dem Balkanland spürbar verbessern würde, sondern weil Tschechien mittlerweile schlechter daran ist.