Die Ennahda-Partei erhält 90 von den insgesamt 217 Sitzen.
Die islamistische Ennahda-Partei hat mit großem Vorsprung die ersten freien Wahlen in Tunesien gewonnen. Die umstrittene Bewegung um Spitzenpolitiker Rachid Ghannouchi bekommt nach dem vorläufigen Endergebnis 90 von 217 Sitzen in der verfassungsgebenden Versammlung. Sie erhielt 41,5 Prozent der Stimmen. Unter dem im Jänner gestürzten Langzeitherrscher Zine El Abidine Ben Ali galt die Ennahda (Wiedergeburt) noch als extremistisch und war verboten.
Straßenschlachten
Überschattet wurde die Bekanntgabe des Wahlergebnisses von gewalttätigen Ausschreitungen in der ehemaligen Revolutionshochburg Sidi Bouzid. Hunderte Menschen lieferten sich nach Augenzeugenberichten Straßenschlachten mit der Polizei und der Armee, nachdem die Wahlkommission sechs Kandidatenlisten des reichen Geschäftsmannes und Besitzers eines TV-Senders Hechmi Haamdi (Hamdi) für ungültig erklärt hatte. Mehrere Gebäude, darunter das örtliche Parteibüro der Ennahda sowie das Gebäude der Regionalverwaltung, wurden in Brand gesetzt. Die Polizei setzte Tränengas ein. Über mögliche Verletzte gab es zunächst keine Angaben.
Hintergrund der Listenausschlüsse waren nach Angaben der obersten Wahlaufsichtsinstanz vor allem Unregelmäßigkeiten bei der Finanzierung der Partei Aridha. Mit 19 Sitzen in der Versammlung gilt die nationalistische Bewegung aber dennoch als die große Überraschung der Wahlen.
Ergebnisse
Zweitstärkste Partei nach der Ennahda wurde die Mitte-Links-Partei "Kongress für die Republik" (CPR) unter Führung des Medizinprofessors Moncef Marzouki mit 30 Sitzen und 13,8 Prozent der Stimmen, teilte die Wahlkommission am Donnerstagabend in Tunis mit. Auf Platz drei landete die sozialdemokratische Partei Ettakatol mit 21 Sitzen und 9,7 Prozent. Sie führt nach eigenen Angaben bereits Gespräche mit der Ennahda über die Bildung einer neuen Übergangsregierung. Parteichef Mustapha Ben Jaafar gilt als möglicher neuer Übergangspräsident. Ein Ennahda-Sprecher sagte, man werde Kontakt zu allen anderen politischen Parteien suchen. Ziel sei eine Regierung der nationalen Einheit. Für den Posten des Regierungschefs brachte sich bereits der Generalsekretär der Ennahda-Bewegung, Hammadi Jebali, ins Spiel.
Ennahda-Chef Ghannouchi erklärte in der Nacht vor jubelnden Anhängern, seine Partei werde die Revolution fortsetzen mit dem Ziel eines Landes "in dem die Rechte Gottes, des Propheten, der Frauen, der Männer, der Religiösen und der Nicht-Religiösen gesichert sind". Liberale Tunesier fürchten jedoch im Falle einer islamistischen Regierung einen für sie dramatischen Wandel des Landes - bis hin zu Kopftuchzwang und Alkoholverbot. Ghannouchi hat diese Befürchtungen wiederholt zurückgewiesen. Konkrete Hinweise auf drohende Einschnitte der Bürger- und Freiheitsrechte gibt es bisher nicht. Im Wahlkampf verkaufte sich die Ennahda-Bewegung als moderne Partei nach dem Vorbild der türkischen AKP.
Neun Monate nach dem Sturz von Langzeitherrscher Ben Ali waren am vergangenen Sonntag rund sieben Millionen Tunesier aufgerufen, den Grundstein für eine demokratische Zukunft ihres Landes zu legen. Die 217 Abgeordneten sind für eine Legislaturperiode von einem Jahr gewählt. Sie sollen die Verfassung neu schreiben, eine Übergangsregierung wählen sowie Parlaments- und Präsidentenwahlen ansetzen. Es wird erwartet, dass sie zudem einen neuen Übergangspräsidenten bestimmen.
Sowohl in Tunesien als auch im Ausland wurde die Abstimmung als wichtige Bewährungsprobe für die Revolutionsbewegung in der ganzen arabischen Welt gewertet. Im Jänner hatten die Tunesier als erstes Volk in der Region erfolgreich gegen die autoritäre Herrschaft ihrer Führung rebelliert. Da seitdem auch die Ägypter und Libyer ihre Langzeitherrscher stürzten, gilt Tunesien als Mutterland des "arabischen Frühlings".