US-Präsident sprach auf Bali von Rakete des Systems S-300
Die Explosion in einem polnischen Dorf im Grenzgebiet zur Ukraine ist nach Angaben der Regierung in Warschau von einer Rakete aus russischer Produktion ausgelöst worden. Der Einschlag in dem Dorf Przewodów habe sich am Dienstag um 15.40 Uhr ereignet, dabei seien zwei Menschen getötet worden, teilte das Außenministerium am Mittwoch mit. US-Präsident Joe Biden soll von einer ukrainischen Flugabwehrrakete gesprochen haben.
Warschau habe den russischen Botschafter ins Außenministerium zitiert, sagte der polnische Ministeriumssprecher weiter. Er betonte, dass am Dienstag ein massiver Beschuss des gesamten ukrainischen Territoriums und seiner kritischen Infrastruktur durch die russische Armee zu beobachten gewesen sei. Przewodów liegt etwa 60 Kilometer Luftlinie entfernt von der westukrainischen Stadt Lwiw (Lemberg), die auch Ziel russischer Angriffe war.
Nicht von Russland aus abgefeuert
Erste Untersuchungen deuten nach Angaben des US-Präsidenten Biden indes darauf hin, dass die Explosion in Polen nicht von einer aus Russland abgefeuerten Rakete verursacht wurde. Es verdichteten sich am Mittwoch vielmehr die Hinweise darauf, dass es sich bei dem Geschoss um eine Flugabwehrrakete aus der Ukraine handelte. Das teilte US-Präsident Biden am Mittwoch nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur bei einem Treffen mit anderen Staats- und Regierungschefs von NATO- und G7-Staaten am Rande des G20-Gipfels auf Bali mit. Er soll demnach von einer Rakete des Systems S-300 gesprochen haben. Das System sowjetischer Bauart ist wesentlicher Bestandteil der ukrainischen Flugabwehr.
Von mehreren Seiten hieß es nach dem Treffen, Moskau trage mit seinem Beschuss der Ukraine die Verantwortung für den Vorfall in Polen. Dies gelte selbst dann, wenn es sich tatsächlich um eine ukrainische Abwehrrakete gehandelt haben sollte.
Auf einen Zusammenhang mit Russland angesprochen, sagte Biden auf Bali: "Ich möchte das nicht sagen, bevor wir es nicht vollständig untersucht haben, aber angesichts der Flugbahn ist es unwahrscheinlich, dass sie von Russland abgefeuert wurde."
Keine konkreten Beweise
Auch Frankreich hat mit Blick auf den Einschlag vor voreiligen Schlüssen gewarnt. Die Frage, wer das Geschoss abgefeuert habe, müsse mit "größter Vorsicht" erörtert werden, erklärte der Elysée-Palast am Mittwoch. "Viele Länder verfügen über die gleiche Art von Waffen, sodass die Identifizierung des Raketentyps nicht unbedingt Aufschluss darüber gibt, wer dahinter steckt." Der Elysée warnte vor "erheblichen Risiken einer Eskalation".
Polen hat nach Angaben des Präsidenten Andrzej Duda zufolge keine konkreten Beweise, wer die Rakete abgefeuert hat. "Wir haben im Moment keine schlüssigen Beweise dafür, wer diese Rakete abgefeuert hat... Es war höchstwahrscheinlich eine Rakete aus russischer Produktion, aber das wird im Moment alles noch untersucht", sagt Duda vor Journalisten.
Die NATO-Botschafter treffen einander wegen des Einschlags Mittwoch früh zu einer Krisensitzung. Das teilte ein NATO-Sprecher der Deutschen Presse-Agentur am späten Dienstagabend mit. Zuvor hieß es vonseiten europäischer Diplomaten, das Treffen werde auf Basis von Artikel 4 des NATO-Vertrags auf Bitten Polens abgehalten. Artikel 4 besagt, dass die NATO-Mitglieder einander konsultieren, wenn etwa die Sicherheit eines Mitglieds bedroht ist.
Polen verstärkt nach Angaben von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki die Überwachung seines Luftraums. "Ich rufe alle Polen auf, angesichts dieser Tragödie ruhig zu bleiben", betonte der Premier in der Nacht auf Mittwoch nach einer Krisensitzung seines Kabinetts. "Wir müssen Zurückhaltung und Umsicht walten lassen."
Das Land versetzte einen Teil seiner Streitkräfte in erhöhte Bereitschaft, dies gelte auch für andere uniformierte Dienste, erklärte ein Regierungssprecher am Dienstagabend in Warschau. Es gehe dabei um bestimmte militärische Kampfeinheiten sowie die Kampfbereitschaft von Einheiten der uniformierten Dienste.
Russland weist Vorwürfe zurück
Das russische Militär wies Berichte über den Absturz angeblich russischer Raketen auf ein polnisches Dorf nahe der Grenze zur Ukraine als "gezielte Provokation" zurück. Es seien keine Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau am Dienstagabend mit. Auch die in polnischen Medien verbreiteten Fotos angeblicher Trümmerteile hätten nichts mit russischen Waffensystemen zu tun, hieß es.
Die Ukraine wies ihrerseits Mutmaßungen zurück, dass eine ihrer Raketen das Nachbarland getroffen habe. "Russland verbreitet nun eine Verschwörungstheorie, dass es angeblich eine Rakete der ukrainischen Luftabwehr war, die auf Polen niederging", schrieb Außenminister Dmytro Kuleba am Dienstagabend auf Twitter. "Das ist nicht wahr."
Die Ukraine drang nach dem Einschlag der Rakete beim Westen auf die Einrichtung einer Flugverbotszone. "Wir bitten darum, den Himmel zu schließen, weil der Himmel keine Grenzen hat", schrieb Verteidigungsminister Olexij Resnikow am Mittwoch im Kurznachrichtendienst Twitter. Dies sei erforderlich, um unkontrollierte Raketen abzuschießen und auch die EU- und NATO-Staaten zu schützen. "Das ist die Realität, vor der wir gewarnt haben", fügte Resnikow hinzu. Die Ukraine hat wegen russischer Luftangriffe vom Westen schon mehrfach eine solche Flugverbotszone verlangt.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat nach den Berichten über Raketeneinschläge in Polen vor voreiligen Reaktionen gewarnt: "Wichtig ist, dass alle Tatsachen festgestellt werden", schrieb Stoltenberg am Dienstag nach einem Telefonat mit dem polnischen Präsidenten Duda auf Twitter.
UNO-Generalsekretär Antonio Guterres zeigt sich "sehr besorgt" über die Berichte. Guterres hoffe, dass eine gründliche Untersuchung durchgeführt werde, teilt der stellvertretende Sprecher der Vereinten Nationen (UNO), Farhan Haq, mit. Es sei "absolut notwendig, eine Eskalation des Krieges in der Ukraine zu vermeiden."
Die Europäische Union steht nach den Worten von EU-Ratspräsident Charles Michel an der Seite Polens. Er stehe zudem mit den polnischen Behörden, Mitgliedern des Rates und anderen Verbündeten in Kontakt, schrieb Michel auf Twitter.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zeigte sich besorgt über die Berichte. "Ich bin alarmiert über Berichte über eine Explosion in Polen, nach einem massiven russischen Raketenangriff auf ukrainische Städte", schrieb von der Leyen auf Twitter. Auch EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola äußerte sich bestürzt.
Litauen, Lettland, Estland, Norwegen, Belgien und Tschechien erklärten in ersten Reaktionen, sie bemühten sich um weitere Informationen. "Russlands Leichtsinnigkeit gerät außer Kontrolle", schrieb der slowakische Verteidigungsminister Jaroslav Nad auf Twitter.