Prognose

Bundesheerexperte: Bei Ukraine-Krieg kein schnelles Ende in Sicht

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Kolportierte niedrige oder hohe Todeszahlen dienen eher der Beruhigung oder Motivation der eigenen Bevölkerungen, meint Oberst Reisner.

Nach ukrainischen Angriffen auf russische Soldaten wie zuletzt, bei denen Russland offiziell rund 70 Tote einräumte und Kiew von 500 Toten und Verletzten sprach, ist nach Expertenansicht Vorsicht geboten. Kolportierte niedrige oder hohe Todeszahlen dienten eher der Beruhigung oder Motivation der eigenen Bevölkerungen. "Die Zahlen, die wir da von beiden Seiten haben, (...) sind unter- oder übertrieben", sagt Bundesheer-Oberst Markus Reisner am Dienstag im Gespräch mit der APA.

Glaubwürdiger sind daher die Gesamtzahlen externer Beobachter, etwa der USA. Reisner verwies als Beispiel auf US-Generalstabschef Mark Milley, der am 10. November von weit mehr als 100.000 getöteten und verwundeten russischen Soldaten sprach. Gleiches gelte "wahrscheinlich auch für die ukrainische Seite", hatte Milley damals erklärt.

Der Tod der russischen Soldaten bei dem ukrainischen Angriff in der Silvesternacht in Makijiwka mit HIMARS-Raketen löste in Russland erstmals massive offene Kritik an der Militärführung aus. Einerseits wurde in einschlägigen Foren von Bloggern kritisiert, dass viele Soldaten zusammen feierten. Andererseits, dass in dem Gebäude offensichtlich auch Munition und Treibstoff gelagert waren, was die Situation noch verheerender machte. "Man sei sich offensichtlich noch nicht des Ernstes der Lage bewusst", so der Tenor. Im Vergleich zu den Verlusten in den letzten Wochen und Monaten sei die Zahl der getöteten russischen Soldaten aber vergleichsweise gering, erklärt Reisner. Hinzu komme, dass die Russen behaupteten, bei einem Gegenangriff ebenfalls 120 Ukrainer getötet und mehrere Raketenwerfer, darunter auch zwei HIMARS-Systeme, zerstört zu haben. Hier fehle bisher jedoch eine bildliche Bestätigung.

Waffenlieferung wichtiger Faktor

Ein schnelles Ende des Kriegs sei nicht in Sicht. Wesentlich für den weiteren Verlauf des Kriegs seien weitere intensive Waffenlieferungen an die Ukraine. Europa sei hier "immer noch zurückhaltend", meint Reisner. "Man müsste eigentlich jede Woche ein, zwei bis drei voll beladene Züge Militärausrüstung liefern, das ist aber nicht der Fall". Die Frage sei auch, ob die USA nun etwa Bradley-Schützenpanzer lieferten. Die Ukraine fordert außerdem weitreichende ATACMS-Raketen oder Mehrzweckkampfflugzeuge vom Typ F-16. Der ukrainische Oberkommandierende Walerij Saluschnyj hatte Mitte Dezember erklärt, 300 Kampfpanzer, 600 bis 700 Schützenpanzer und 500 Haubitzen zu brauchen. Erst damit könne er wieder in eine neue Offensive übergehen.

Die USA seien trotz starker Unterstützung der Ukraine auf keine Eskalation aus, sagt der Experte. Reisner nennt als Indikatoren, dass die USA bis jetzt nur 20 HIMARS-Mehrfachraketenwerfer geschickt und weitere 18 zugesagt haben - weit weniger als die 50 bis 100 von den Ukrainern verlangten. Die USA hätten bisher auch keine F-16 Mehrzweck-, A-10-Erdkampfflugzeuge oder "Gray Eagle"-Drohnen geliefert und nichts unternommen, um die Satellitensysteme der Russen zu zerstören oder zumindest zu stören. Hinzu komme der überraschende und offensichtlich zugelassene Abzug von 30.000 Russen bei Cherson.

Russland habe in puncto Waffen und Munition "noch einiges in der Hinterhand". Allerdings gebe es in den Arsenalen der Russen erste klar ansprechbare "Lücken": Erkennbar sei dies daran, dass die Russen S-300 Fliegerabwehrraketen oder Antischiffsraketen als Boden-Boden-Raketen und auch iranische Drohnen einsetzten, sowie dass die Raketenbaulose immer aktueller im Herstellerdatum würden. "Die Russen haben es geschafft, rechtzeitig vor dem Leerwerden ihrer Lager eine Anschlussversorgung sicherzustellen, durch Eigenproduktion und vor allem durch Unterstützung durch den Iran."

Im Moment ortet Reisner eine "eingefrorene Frontlinie", die sich von Cherson entlang des Dnipro-Flusses nach Saporischschja über Donezk bis in den Raum ostwärts von Kupjansk ziehe. "Die Russen beginnen sich, massiv einzugraben." Zwei strategisch günstige Räume für eine Offensive der Ukrainer sieht Reisner: Erstens in der Region Saporischschja beim Dnipro-Knie in Richtung Melitopol und zweitens ein ukrainischer Vorstoß in die Region Kreminna südöstlich von Charkiw. Hier könnten die Versorgungslinien der Russen in den Donbass abgeschnitten werden. Ein Stoß in Richtung Melitopol würde hingegen zu einer massiven Einkesselung führen. Russland sei mittlerweile in der militärisch vorteilhafteren Rolle des Verteidigers. Die ukrainischen Angreifer müssten nun in einer Offensive eine Überlegenheit von 3:1 oder gar 4:1 aufbauen.

Trotz aller Kritik an der Taktik und Operationsführung der Russen erachtet Reisner deren Kriegsführung auf der strategischen Ebene noch immer als "sehr überlegt" und "schmerzhaft": "Die Russen setzen die iranischen Drohnen ein, um die ukrainische Fliegerabwehr zu binden. Und wenn diese dann übersättigt ist, dann versucht man mit Marschflugkörpern durchzustoßen und Ziele in der Tiefe anzugreifen". Mit Angriffen auf die Infrastruktur des Landes will Moskau den Durchhaltewillen der ukrainischen Bevölkerung brechen sowie die Versorgung und Rüstung der ukrainischen Streitkräfte schwächen. Die ukrainischen Gegenschläge wie auf Sewastopol und den Flughafen Engels, um Flugzeuge und Schiffe, also Träger der Marschflugkörper zu treffen, seien bisher aber "nur ein Tropfen auf dem heißen Stein". Russland könne die Angriffe weiter durchführen. Daher der hohe Bedarf der Ukraine an Fliegerabwehr.

Entscheidend sei nun die zusätzliche Mobilisierungsfähigkeit auf beiden Seiten. Am Dienstag habe es Berichte über eine mögliche neue Mobilisierungswelle in Russland gegeben mit Hunderttausenden neu zu rekrutierenden Soldaten. Auch die politische Führungsfähigkeit Russlands und der Ukraine und die Auswirkungen der Angriffe auf die kritische Infrastruktur auf die eigenen Bevölkerungen spielten eine Rolle. Ein weiterer Faktor sei, wie sich Länder wie China und Indien zu Russland positionierten. Beide Staaten stellen sich bisher nicht eindeutig gegen Moskau, stattdessen flogen erst kürzlich Transportmaschinen aus China mit unbekannter Fracht nach Russland. 

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