Ukraine-Krieg

Historiker: "Putin hat ein fatales Geschichtsbild"

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 Putins "gefährliches" Geschichtsverständnis ist "in erster Linie  Propagandainstrument"  

Mit einem "fatalen und auch sehr gefährlichen" Geschichtsbild im Hintergrund greift Russland Präsident, Wladimir Putin, mit ungeahnter Härte nach der Ukraine. Europa dürfe das Land nicht aufgeben, sagte der Historiker Philipp Ther im APA-Gespräch. Er glaubt, dass das Putin-Regime den ukrainischen Widerstand unterschätzt hat. Die unverhohlene Koketterie mit dem nun endgültig entlarvten System in Österreich sieht Ther letztlich als "verfassungs- und republikfeindlich" an.

Das verschrobene Geschichtsverständnis, mit dem Putin operiert, sei "in erster Linie ein Propagandainstrument". Die seltsame Mischung aus einer russisch-imperialistischen und stalinistischen Erzählung lasse Stalins "Topos des Verrats" durch die dem Westen zugewandte Ukraine gegenüber Russland wieder aufleben. Die Folge waren damals "brutale Repressionen" und die "absichtlich erzeugte und verschlimmerte" Hungersnot mit rund vier Millionen Toten, erklärte Ther.

"Sehr gefährlich"

Die Kombination dieser Sichtweisen durch Putin ist "fatal und auch sehr gefährlich", stehe aber auch in Zusammenhang damit, dass er Stalin und damit auch dessen Verbrechen am russischen Volk zum großen Teil rehabilitiert habe, so der Gründer und Leiter des Forschungszentrums für die Geschichte von Transformation (RECET) an der Universität Wien. Dieses Geschichtsbild sei ebenso "krude", wie "in sich widersprüchlich", aber auch "sehr abgehoben". Daher glaubt Ther nicht, dass ein Großteil der russischen Bevölkerung damit viel anfangen kann.

Allerdings werden die Bilder der "verräterischen Ukraine, der kein Existenzrecht zugebilligt wird", wie auch der Topos des seit 2014 gewaltsam für sich vereinnahmten "Brudervolkes" über die Propagandainstrumente vielfach verbreitet. All das stoße sicher auch auf Anklang, sagte der Professor für Geschichte Ostmitteleuropas.

Opferrolle

Das gelte auch für den Appell des russischen Präsidenten an die vergangene "imperiale Größe". Das falle auf fruchtbaren Boden - auch weil die russische Gesellschaft unter "einem postimperialen Minderwertigkeitskomplex" leidet und sich einerseits vielfach in einer Opferrolle sieht, andererseits aber zugleich Herrschafts- und Machtansprüche auf ihre Nachbarn erhebt.

Was Putin mit seiner Invasion in der Ukraine letztlich bezweckt, sei noch nicht absehbar, so Ther: "Ich bin mir auch nicht sicher, ob er es selber weiß." Das mache den Konflikt aber noch gefährlicher, "weil ein Krieg mit schlecht definierten Zielen auch besonders schwer zu beenden ist". Aktuell sehe es danach aus, dass man einen Großteil der Ukraine besetzen wolle. Dazu gehört auch die Hauptstadt Kiew, die nach dem Geschichtsbild Putins ein Teil Russlands sein sollte.

Wie man das riesige Gebiet der Ukraine und eine derart zahlreiche Bevölkerung dauerhaft besetzt halten möchte, sei schwer vorstellbar. "Das kann nicht stabil sein", glaubt der Historiker. Denn schon nach der Annektierung der Krim und der Intervention in die Ostukraine im Jahr 2014 habe die Ukraine sich nicht in den Plan Moskaus gefügt und teils auch Gebiete wieder zurückgewonnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg leisteten ukrainische Partisanen jahrelangen Widerstand. Dabei starben mehr als 100.000 Menschen, noch weit mehr wurden deportiert und in Lagern inhaftiert. "All das hat die ukrainische Nationalbewegung aber nicht wirklich gebrochen. Daher verhebt sich Russland an der Ukraine", sagte Ther. Das mache die Situation jedoch zusätzlich gefährlich, weil es Putin zu noch drastischeren Maßnahmen treiben könne.

Europäische Option

Dass man der Ukraine keine echte europäische Option geboten habe, auch nachdem sich dort 2013/14 "eine klar pro-europäische Revolution" ereignet habe, sei sehr bedauerlich. Man habe sich in den Folgejahren zu wenig für das Land interessiert und eingesetzt. Jetzt stehe eine massenhafte Fluchtbewegung nach Österreich bevor. Ther rechnet auf der Basis der Ausgangsbedingungen von 1992/93 und 2015/16 mit mindestens 200.000 Flüchtlingen.

Der Historiker warnt davor, Europa wie im Kalten Krieg in Einflusssphären zu unterteilen und damit einen neuen Eisernen Vorhang an der Westgrenze der Ukraine zu akzeptieren. Damit würde man die Ukraine als Nation aufgeben und letztlich "verraten", so Ther. Putins Weltsicht mit einem dahinterstehenden "ethnischen Nationskonzept" der "russischen Welt" (russkij mir), wonach Russland eine Rolle als Schutzmacht russischsprachiger Menschen in anderen Ländern beansprucht, mache auch Aktionen in baltischen Ländern, der Republik Moldau oder in Zentralasien denkbar. "Daher ist es so dringend, ihm Widerstand zu leisten und ihn möglichst zu stoppen."

Europäische Politiker mit nationalistischer, rechtspopulistischer und -radikaler Prägung, die sich in den vergangenen Jahren teils klar auf die Seite des Putin-Regimes geschlagen haben, wie etwa die FPÖ in Österreich, seien Feinde der liberalen Demokratie. Letztlich könne man die Anbiederung an einen Diktator nur als "verfassungs-und republikfeindlich" verstehen: "Das muss man auch so klar mit Blick auf bestimmte Politiker sagen, die beispielsweise Putin zu ihrer Hochzeit eingeladen haben. Das war im Prinzip ein antidemokratischer Akt und wurde im Ausland auch als solcher verstanden", sagte Ther.

Wenn man sich nun vielerorts in der Betonung der Freiheit und der demokratischen Werte überschlägt, sollte man sich vor Augen halten, dass es für ein echtes Aufleben dieser Begriffe hierzulande konkreter Maßnahmen bedürfte - von der Korruptionsbekämpfung über die Parteienfinanzierung bis hin zur Medienförderung.
 

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