Einer von zwei noch betriebenen Reaktoren des AKW ist nach Angaben des ukrainischen Betreibers Energoatom nach russischem Beschuss heruntergefahren worden.
Kiew (Kyjiw)/Moskau. Kurz vor dem geplanten Eintreffen der Experten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) im ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja sind in der Umgebung erneut Kämpfe ausgebrochen. Ukrainer und Russen gaben sich gegenseitig die Schuld. Einer von zwei noch betriebenen Reaktoren des AKW ist nach Angaben des ukrainischen Betreibers Energoatom nach russischem Beschuss heruntergefahren worden. Die Expertengruppe erreichte bereits von russischen Truppen kontrolliertes Gebiet.
Die Inspekteure der Internationalen Atomenergie-Agentur IAEA wurden nach eigenen Angaben auf dem Weg zum AKW Saporischschja auf ukrainischem Gebiet für drei Stunden festgesetzt. IAEA-Chef Rafael Grossi habe persönlich mit dem ukrainischen Militär verhandelt, um weiter voranzukommen, teilt die IAEA mit. Grossi sei entschlossen, das AKW - wie geplant - noch am Donnerstag zu erreichen.
"Beschuss aus Granatwerfern zu hören"
"Seit fünf Uhr früh ist Beschuss aus Granatwerfern zu hören", schrieb der geflohene ukrainische Bürgermeister von Enerhodar, Dmytro Orlow, am Donnerstag auf Telegram. Mehrere zivile Objekte seien getroffen worden, es gebe auch Tote. Auch die abgestimmte Route, die die Expertenkommission von Saporischschja in das 120 Kilometer entfernte AKW nehmen soll, sei unter Beschuss, schrieb der Gouverneur des Gebiets, Olexandr Staruch, auf Twitter.
Der Vertreter der russischen Besatzer, Wladimir Rogow, teilte dagegen auf Telegram mit, Enerhodar, Standort des AKW, werde seit den frühen Morgenstunden von ukrainischer Artillerie beschossen. Das russische Verteidigungsministerium meldete, ein versuchter Angriff ukrainischer Truppen auf das AKW sei abgewehrt worden. Rund 60 Mann seien aus Booten am Ufer des Kachowka-Stausee etwa drei Kilometer entfernt von der Anlage ausgestiegen und hätten versucht, das Kraftwerk einzunehmen.
Außenminister Sergej Lawrow versicherte, Russland tue alles, damit das AKW Saporischschja sicher betrieben werden könne. Auch werde alles unternommen, damit die Experten der internationalen Atomenergiebehörde IAEA die Anlage besuchen dürften.
Enerhodar laut russischer Nachrichtenagentur ohne Strom
Enerhodar ist nach einem Bericht der russischen Nachrichtenagentur TASS ohne Strom. Der von den russischen Besatzern eingesetzte Verwaltungsangestellte Alexander Wolga habe erklärt, in der Stadt gebe es kein Licht. Das sei aber kein Grund für einen Abbruch der geplanten Visite der IAEA-Experten. Das Verteidigungsministerium in Moskau teilt laut russischen Nachrichtenagenturen weiter mit, die Lage um das AKW sei schwierig, aber unter Kontrolle.
Die Atom-Experten mit IAEA-Chef Grossi an der Spitze sollen überprüfen, in welchem Zustand die Anlage mit ihren sechs Reaktoren ist, unter welchen Bedingungen die ukrainische Bedienungsmannschaft arbeitet, ob alles Nuklearmaterial noch vorhanden ist. In dem AKW befinden sich russische Soldaten. Die Anlage und ihre Umgebung sind in den vergangenen Wochen immer wieder beschossen worden, wobei Russen und Ukrainer sich gegenseitig die Schuld zuschieben. International gab es große Sorge vor Schäden am Werk und einem Austritt von Radioaktivität.
Grossi erklärte kurz vor seinem Aufbruch zum AKW, er erwäge eine längere Präsenz. Es gebe zwar zunehmende militärische Aktivitäten rund um die Anlage, wenn man aber alle Argumente abwäge und da man schon so weit gekommen sei, werde man jetzt die geplanten Kontrollen nicht abbrechen.
Kontrollpunkt Wassyliwka passiert
"Nach den zuletzt übermittelten Informationen haben sie den Kontrollpunkt Wassyliwka passiert und wir erwarten sie innerhalb der nächsten Stunde in der Stadt Enerhodar", wurde der Chef der Besatzungsverwaltung von Enerhodar, Alexander Wolga, von der russischen Nachrichtenagentur Interfax am Donnerstag zitiert.
Zuvor teilte der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit, die Mitarbeiter seien Repressionen durch die russischen Besatzer ausgesetzt. Mehrere Mitarbeiter, die den Russen gegenüber nicht wohlgesonnen seien, seien verschwunden.
Sie seien sich der Berichte über verstärkten Beschuss in der Region Enerhodar, in der das AKW liegt, bewusst, sagte IAEA-Chef Grossi am Donnerstag. Das hielte sie aber nicht auf.
Das Team war am Mittwoch in der Stadt Saporischschja, etwa 70 Kilometer von dem gleichnamigen Kraftwerk entfernt, angekommen. Die Stadt Saporischschja wird von der Ukraine kontrolliert, Enerhodar und das AKW von russischen Truppen. Betrieben wird Europas größtes AKW aber von ukrainischen Technikern.
Das Internationale Rote Kreuz hat Russland und die Ukraine zu einem Ende der Kämpfe in der Nähe des Atomkraftwerks aufgefordert. "Es darf keine Kämpfe in, um, in Richtung und aus derartigen Einrichtungen wie dem AKW heraus geben", sagte der Leiter der Organisation, Robert Mardini, Journalisten am Donnerstag in Kiew. Bei einem "massiven Zwischenfall" in Europas größtem Kraftwerk im Süden der Ukraine gäbe es "nur noch wenig, was irgendjemand tun kann".