Ukrainische Justiz prüft Anklage

Kiew sieht Genozid durch Kinderverschleppungen

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Das humanitäre Völkerrecht stuft die erzwungene Massendeportation von Menschen während eines Konflikts als Kriegsverbrechen ein.

Kiew (Kyjiw)/Moskau. Die ukrainische Justiz prüft, ob sie angesichts der mutmaßlichen Verschleppung zahlreicher Kinder während des Krieges nach Russland eine Anklage wegen Völkermords erheben kann. Gleich zu Beginn des Krieges habe sie den Fall aufgegriffen, sagte die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa in einem am Freitag veröffentlichen Interview der Nachrichtenagentur Reuters. Wenediktowa lehnte es ab, genau zu beziffern, wie viele Opfer bisher verschleppt wurden.

Inmitten des Chaos und der Zerstörung, die durch Russlands Angriff verursacht wurden, sei die Konzentration auf die Entfernung von Kindern der beste Weg, die Beweise zu sichern, die erforderlich seien, um die strenge gesetzliche Definition von Völkermord erfüllen. "Deshalb ist dieser gewaltsame Transfer von Kindern sehr wichtig für uns", sagte Wenediktowa.

Das humanitäre Völkerrecht stuft die erzwungene Massendeportation von Menschen während eines Konflikts als Kriegsverbrechen ein. Der "gewaltsame Transfer von Kindern" im Besonderen gilt als Völkermord, das schwerste Kriegsverbrechen.

1,2 Millionen Ukrainer gegen ihren Willen außer Landes gebracht

Nach Angaben der Regierung in Kiew wurden inzwischen mehr als 1,2 Millionen Ukrainer gegen ihren Willen außer Landes gebracht. Mehr als 210.000 davon seien Kinder, sagte die Ombudsfrau der Ukraine für Menschenrechte, Ljudmyla Denisowa, Mitte Mai. Die russische Nachrichtenagentur Tass zitierte am Montag einen namentlich nicht genannten Vertreter der Strafverfolgungsbehörden mit den Worten, mehr als 1,55 Millionen Menschen seien nach Russland gekommen, darunter mehr als 254.000 Kinder.

Die rechtliche Latte für die Feststellung von Völkermord liegt Rechtsexperten zufolge hoch. Erst in drei Konflikten – Bosnien, Ruanda und Kambodscha – wurde Genozid vor internationalen Gerichten bewiesen, seit er im humanitären Recht zementiert wurde. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hatte nach dem Nazi-Holocaust die Völkermordkonvention 1948 beschlossen.

Wenediktowa verwies darauf, dass die Zusammenstellung von Beweisen durch den Krieg kompliziert sei. Die Ermittlungen zielten auf Gebiete, die sich vom Norden der Ukraine bis nach Mykolajiw und Cherson an der Südküste erstreckten. "Bis heute haben wir keinen Zugang zu den Territorien. Wir haben keinen Zugang zu Leuten, die wir befragen, die wir interviewen können." Sie warte ab, bis das Gebiet nicht mehr besetzt sei.

Auf die Bitte um eine Stellungnahme zu Wenediktowas Äußerungen antwortete der Kreml nicht. Auch gab er nicht an, wie viele Ukrainer sich in Russland befinden.

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