Gouverneur von Luhansk, Serhiy Gaidai, forderte die Zivilbevölkerung erneut dazu auf, die Region zu verlassen.
Kiew (Kyjiw)/Moskau. Nach dem Russland zugeschriebenen Raketenangriff auf einen Bahnhof im Osten der Ukraine mit Dutzenden Toten untermauern die Behörden ihre Warnung vor einem größer angelegten russischen Angriff in der Region. "Sie ziehen Truppen zusammen für eine Offensive und der Beschuss hat in den vergangenen Tagen zugenommen", sagte der Gouverneur von Luhansk, Serhiy Gaidai, in einer TV-Ansprache am Samstag. Er forderte die Zivilbevölkerung erneut dazu auf, die Region zu verlassen.
Noch immer hielten sich etwa 30 Prozent der Bewohner in Städten und Dörfern in Luhansk auf, obwohl bereits zur Evakuierung aufgerufen worden sei. Präsident Wolodymyr Selenskyj verurteilte den Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk in der an Luhansk grenzenden Region Donezk als ein weiteres Kriegsverbrechen. In einer Videobotschaft rief er zu einer weltweiten Reaktion auf.
Importe russischer Energie müssten gestoppt und alle russischen Banken vom weltweiten Finanzsystem abgeschnitten werden. "Jede Verzögerung bei der Lieferung von Waffen an die Ukraine, jede Ablehnung können nur bedeuten, dass die betreffenden Politiker der russischen Führung mehr helfen wollen als uns."
Luftalarm in zahlreichen Städten
In zahlreichen Städten im Osten der Ukraine ertönte Luftalarm. Die Region ist neben dem Süden nach dem Rückzug russischer Soldaten aus Gebieten bei der Hauptstadt Kiew zum Mittelpunkt russischer Militäraktionen geworden. Bei dem Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk am Freitag wurden nach ukrainischen Angaben mindestens 52 Menschen getötet. Es waren demnach vor allem Frauen, Kinder und Ältere, die auf der Flucht vor der erwarteten russischen Offensive im Osten waren.
Der Bahnhof wurde nach Angaben des Regionalgouverneurs Pawlo Kyrylenko von einer ballistischen Kurzstreckenrakete vom Typ Totschka-U getroffen. Diese habe Streumunition enthalten. Streumunition, auch Clustermunition genannt, wird nicht zielgerichtet eingesetzt. Sie enthält viele kleinere Bomben und entfaltet dadurch einen sehr großen Wirkungsradius. Sie ist besonders gefährlich, weil nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterschieden wird. Streumunition ist gemäß einer Konvention von 2008 verboten. Russland hat diese Konvention nicht unterzeichnet und bestritten, dass solche Waffen in der Ukraine eingesetzt würden.
Angriffe auf die Zivilbevölkerung
Die Berichte über Angriffe auf die Zivilbevölkerung sorgen für weltweites Entsetzen. Unabhängig lassen sich viele Angaben kaum überprüfen. Im Fokus standen zuletzt vor allem die Leichenfunde im Ort Butscha bei Kiew, den bis vor kurzem noch russische Truppen besetzt hatten. "Mein Instinkt sagt: Wenn das kein Kriegsverbrechen ist, was ist dann ein Kriegsverbrechen", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf der Rückreise aus der Ukraine. Bei ihrem Besuch am Freitag in Butscha habe sie mit ihren eigenen Augen die Zerstörung des Ortes gesehen. Sie selbst sei aber nur eine ausgebildete Ärztin. Anwälte müssten die Vorwürfe genau prüfen. Ein gemeinsames Ermittlungsteam der EU und der Ukraine arbeite daran, Beweise für mögliche Kriegsverbrechen für künftige Gerichtsverfahren zu sammeln.
Die russische Regierung, die von einem militärischen Sondereinsatz in der Ukraine zu deren Entmilitarisierung und Entnazifizierung spricht, hat Angriffe auf Zivilisten wiederholt bestritten. Die Ukraine und westliche Staaten bezeichnen die am 24. Februar begonnene russische Invasion als nicht provozierten Angriffskrieg. Mehr als vier Millionen Menschen sind inzwischen ins Ausland geflohen. Tausende wurden getötet oder verletzt. Städte wurden in Schutt und Asche gelegt, ein Viertel der Bevölkerung wurde obdachlos gemacht.