Im Osten der Ukraine haben Russlands Truppen im Gebiet Donezk nach ukrainischen Angaben weiter vorrücken können.
Die russischen Angreifer hätten sich in der Siedlung Widrodschennja festgesetzt, teilte der ukrainische Generalstab am Dienstag auf Facebook mit. Zuvor habe es schweren Artilleriebeschuss auch auf die nahe gelegene Stadt Bachmut gegeben. Die russischen Einheiten stießen demnach entlang der Europastraße 40 in Richtung Bachmut vor.
Im nördlichen Teil des Gebiets gebe es weiter Kämpfe um den Ort Bohorodytschne. Damit sollten offenbar die Voraussetzungen für einen weiteren Vorstoß in Richtung der Stadt Slowjansk geschaffen werden, hieß es weiter. Den Einschätzungen der Ukrainer zufolge bereiten sich die Russen darauf vor, ihre Offensive vom eroberten Lyman nach Rajhorodok und von Jampil nach Siwersk wieder aufzunehmen. Rajhorodok liegt nur wenige Kilometer von Slowjansk entfernt.
Die seit Wochen umkämpfte Verwaltungsstadt Sjewjerodonezk ist nach der Zerstörung der dritten und letzten Brücke über den Fluss Siwerskyj Donez nahezu vollständig von russischen Truppen eingekreist und laut Gouverneur Serhiy Gaidai (Hajdaj) unmöglich zu evakuieren. Nur das ukrainische Militär habe noch einen begrenzten Zugang zur Stadt. Der Kampf um Sjewjerodonezk gilt als mitentscheidend über die Herrschaft über den Donbass im Osten des Landes. Die Lage der ukrainischen Truppen sei "schwierig, aber unter Kontrolle", obwohl 70 Prozent der Stadt von Russland kontrolliert würden, so Gaidai.
Die Lage rund um das örtliche Chemiewerk Azot sei besonders schwer, sagte der Chef der städtischen Militärverwaltung, Olexander Strjuk, am Dienstag im ukrainischen Fernsehen. Auf dem Werksgelände sollen demnach in Bombenschutzkellern etwa 540 bis 560 Zivilisten ausharren. "Gewisse Vorräte wurde im Azot-Werk geschaffen", sagte Strjuk. Zudem leisteten Polizisten und Militärs so gut wie möglich Hilfe. Das Gelände stehe aber unter ständigem Beschuss.
Die Situation erinnert an die Lage in der Hafenstadt Mariupol, wo Zivilisten wochenlang mit verwundeten ukrainischen Kämpfern im Stahlwerk Asowstal ausgeharrt hatten. Die Leichen von weiteren 64 gefallenen ukrainischen Verteidigern des Stahlwerks wurden am Dienstag ukrainischen Angaben zufolge von Russland an die Ukraine übergeben. Bereits am 9. Juni hatte Kiew 58 Leichen entgegengenommen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert vom Westen erheblich mehr Hilfen im Krieg gegen Russland. "Wir müssen noch viel mehr gemeinsam tun, um diesen Krieg zu gewinnen", sagte Selenskyj der deutsche Wochenzeitung "Die Zeit" in einem am Dienstag veröffentlichten Interview. Insbesondere brauche sein Land wesentlich mehr moderne Artilleriegeschütze wie Mehrfachraketenwerfer mit größerer Reichweite und ähnliche Systeme. Zur Debatte um den Umfang der Unterstützung durch die deutsche Regierung sagte er, die Lieferungen aus Deutschland seien "immer noch geringer, als sie sein könnten".
Auf die Frage, ob er sich wünsche, dass der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz die Formulierung verwende, die Ukraine müsse gewinnen, erwiderte Selensykj: "Wie auch immer der Wortlaut ist, jeden Tag sterben Dutzende von Menschen hier in der Ukraine. Jeden Tag. Wie soll ich da ruhig bleiben? (Russlands Präsident Wladimir) Putin hasst die Idee eines freien und vereinten Lebens in Europa, und wir halten dagegen. Also sagt, was ihr wollt und wie ihr es wollt, aber helft uns. Bitte." Scholz hatte der Ukraine Lieferungen neuer Waffen zugesagt, darunter auch hochmoderne Systeme. "Russland kann, darf und wird diesen Krieg nicht gewinnen", betonte der Kanzler.
Selenskyj formulierte am Montagabend zum ersten Mal deutlich die Rückeroberung der besetzten Halbinsel Krim als Kriegsziel. "Die ukrainische Flagge wird wieder über Jalta und Sudak, über Dschankoj und Jewpatorija wehen", so der ukrainische Präsident in Kiew. "Natürlich werden wir auch unsere Krim befreien." Russland hatte die Halbinsel im Schwarzen Meer 2014 militärisch besetzt, als die Ukraine nach einem Machtwechsel geschwächt war und keinen Widerstand leisten konnte. Dann wurde ein international nicht anerkanntes Referendum abgehalten und die Krim Russland angegliedert. Selenskyj hat immer eine Rückkehr der Halbinsel verfochten, dies aber selten so nachdrücklich als Kriegsziel formuliert.
Scholz, der französische Präsident Emmanuel Macron und Italiens Regierungschef Mario Draghi könnten Mitte der Woche die Ukraine besuchen. Eine offizielle Terminangabe steht aber noch aus. Das Verhältnis zwischen Berlin und Kiew war zu Beginn des Krieges stark abgekühlt. Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war in der Ukraine nicht willkommen, weil Kiew ihm seine moskaufreundliche Politik vorhielt. Hinzu kam die Kontroverse um Ausmaß und Schnelligkeit der Unterstützung Deutschlands für das angegriffene Land.
Macron wird am Dienstagabend in Begleitung von Außenministerin Catherine Colonna und Verteidigungsminister Sébastien Lecornu auf dem rumänischen Luftwaffenstützpunkt Mihail Kogalniceanu nahe der Hafenstadt Konstanza erwartet. Er besucht dort die etwa 500 französischen Soldaten, die gemeinsam mit 300 belgischen Soldaten eine schnelle Eingreiftruppe der NATO bilden. Frankreich hat das Kommando über diese Kampftruppe, die die Ostflanke der NATO verstärkt. Die belgischen Soldaten werden künftig durch ein niederländisches Kontingent ersetzt. Macron hatte im Präsidentschaftswahlkampf angekündigt, dass er nach seiner Wiederwahl französische Soldaten im Auslandseinsatz treffen wolle. Am Mittwoch ist ein Besuch in Moldau geplant. Es ist die erste Reise des französischen Präsidenten in Nachbarländer der Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskriegs.
Der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk hielt am Dienstag vor Beginn der Nationalratssitzung eine Rede an das österreichische Parlament. Vor den Abgeordneten aller Fraktionen außer der FPÖ plädierte Stefantschuk einmal mehr für eine EU-Annäherung seines Landes und die Zuerkennung des Beitrittskandidatenstatus beim EU-Gipfel am 23. und 24. Juni. Von ÖVP, SPÖ, Grünen und NEOS erhielt er dafür Solidaritätsadressen.
Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) verurteilte am Dienstag in Reaktion auf einen Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) Russlands Einsatz von Streumunition im Angriffskrieg auf die Ukraine "aufs Schärfste". "Die Unterscheidung von Kombattanten und Zivilisten ist eine völkerrechtliche Pflicht", teilte Schallenberg der APA mit. Laut AI-Bericht kam es sogar in Wohngegenden und auf einem Spielplatz zum Einsatz von Streumunition.
"Unterschiedslose Angriffe - noch dazu mit einer international geächteten Waffe, ohne jegliche Rücksichtnahme auf das Völkerrecht, sind eine weitere gravierende Völkerrechtsverletzung Russlands", so der Außenminister. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Dafür sei eine genaue Dokumentation der Vorkommnisse notwendig. In einem Tweet zeigte sich das Ministerium zudem "zutiefst beunruhigt" über Russlands Einsatz von Streumunition in Charkiw. Laut einem Bericht des britischen Verteidigungsministeriums von Dienstag machten die russischen Invasionstruppen im Bereich rund um die Millionenstadt wohl erstmals seit Wochen kleinere Fortschritte.
Russland hat laut der Nachrichtenagentur RIA zudem ein ukrainisches Artilleriewaffen-Depot in der nördlichen Region Tschernihiw mit Marschflugkörpern vom Typ Kalibr beschossen. Weiters habe die Luftabwehr einen ukrainischen MiG-29-Kampfjet und einem MI-24-Hubschrauber abgeschossen, meldet die russische Nachrichtenagentur Tass ebenfalls unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in Moskau.
Auch auf ukrainische Einheiten und Waffenlager in den ostukrainischen Gebieten Donezk und Luhansk seien Raketen abgefeuert worden. Von dem Beschuss auf Pryluky hatte die ukrainische Seite bereits am Montag berichtet und mehrere Dörfer im Umkreis evakuieren lassen. Russland hat seine Bodentruppen aus dem Gebiet Tschernihiw - ebenso wie aus dem Umkreis von Kiew - seit Ende März abgezogen und konzentriert sich derzeit auf Kampfhandlungen im Osten. Mit Raketen werden der Norden und der Westen der Ukraine aber weiter beschossen.
Behördenvertreter in russischen Regionen an der Grenze zur Ukraine haben in den vergangenen Wochen mehrfach Fälle von grenzüberschreitendem Beschuss gemeldet, bei dem Wohnhäuser beschädigt und Menschen verletzt worden sein sollen. Bei einem Granatenangriff auf eine russische Stadt an der Grenze zur Ukraine sind nach Behördenangaben vier Menschen verletzt worden. Zudem seien einige Häuser in Klinzi in der Region Brjansk beschädigt worden, teilt Gouverneur Alexander Bogomaz am Dienstag über den Kurznachrichtendienst Telegram mit.
Russland hat am 24. Februar einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland Ukraine begonnen und beklagt seitdem wiederholt auch Angriffe auf sein eigenes Staatsgebiet. Neben Brjansk werfen auch andere russische Regionen wie Kursk und Belgorod der gegnerischen Seite immer wieder Beschuss vor. Die Regierung in Kiew äußert sich zu den Vorwürfen in der Regel nicht.