Erstmals seit Beginn des Krieges in der Ukraine hat Staatschef Wolodymyr Selenskyj den Osten des Landes besucht.
Sein Büro veröffentlichte am Sonntag im Messengerdienst Telegram ein Video, das Selenskyj mit einer kugelsicheren Weste in Charkiw und Umgebung zeigte. Der Staatschef kündigte an, "in Charkiw und allen anderen Städten und Dörfern, über die das Böse hereinbrach", würden die zerstörten Häuser wieder aufgebaut. Er sagte, das Land "bis zum letzten Mann" zu verteidigen.
"In diesem Krieg versuchen die Besatzer, wenigstens irgendetwas als Ergebnis herauszupressen", so Selenskyj. "Aber sie müssten schon lange begriffen haben, dass wir unser Land bis zum letzten Mann verteidigen werden. Sie haben keine Chance. Wir werden kämpfen und wir werden in jedem Fall siegen."
Die verbreiteten Videoaufnahmen zeigten Selenskyj dabei, wie er Soldaten auszeichnete, die zerstörte Infrastruktur in Charkiw inspizierte, aber auch von der russischen Armee zurückgelassene ausgebrannte Militärfahrzeuge besichtigte. Selenskyj dankte den Soldaten für ihren Einsatz. "Ich bin grenzenlos stolz auf unsere Verteidiger. Jeden Tag kämpfen sie unter Einsatz ihres Lebens für die Freiheit der Ukraine", so der Präsident.
Gouverneur Oleh Synehubow berichtete Selenskyj, dass in Charkiw und Umland noch 31 Prozent des Territoriums unter russischer Kontrolle sind. Die ukrainische Gegenoffensive im April und Mai habe zur Befreiung von fünf Prozent des Gebiets beigetragen, sagte Synehubow.
Wenige Stunden nach dem Besuch von Selenskyj sind in der hart umkämpften Stadt Charkiw einem Reuters-Reporter zufolge mehrere Explosionen zu hören gewesen. Über dem Nordosten der Stadt war eine schwarze Rauchwolke zu sehen.
Selenskyj bezeichnete nach dem Frontbesuch die Zerstörungen in Charkiw als Beispiel für Russlands Vernichtungskrieg. "Schwarze, ausgebrannte, halb zerstörte Wohnhäuser blicken mit ihren Fenstern nach Osten und Norden - dorthin, von wo die russische Artillerie schoss", sagte er am Sonntag in einer Videobotschaft. Russland könne in diese Häuser wie in einen Spiegel schauen. "Um zu sehen, wie viel es in diesen 95 Tagen des Krieges gegen die Ukraine verloren hat", sagte Selenskyj.
Russland habe nicht nur die Schlacht um Charkiw, sondern auch um die Hauptstadt Kiew und den Norden der Ukraine verloren, meinte der Präsident. "Es hat seine eigene Zukunft und jede kulturelle Bindung zur freien Welt verloren. Sie sind alle verbrannt."
In Charkiw und Umgebung seien 2.229 Gebäude zerstört worden, sagte der ukrainische Präsident, der sich seit Beginn des Krieges am 24. Februar in der Hauptstadt Kiew aufgehalten hatte.
Zu Beginn ihres Angriffskrieges hatten die russischen Streitkräfte Charkiw beinahe täglich bombardiert. Mit der Verlegung russischer Einheiten in andere Regionen im Osten und Süden des Landes kehrte in Charkiw etwas Ruhe ein, auch wenn der Ostteil der Großstadt immer wieder beschossen wird.
Unterdessen gehen im Donbass die Kämpfe nach ukrainischen Angaben mit unverminderter Härte weiter, vor allem im Raum Sewerodonezk. Der Feind "versucht, am nordöstlichen Stadtrand von Sewerodonezk Fuß zu fassen und führt Angriffsoperationen in Richtung Stadtzentrum durch", teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht am Sonntagabend mit. Die Bodenoffensive werde dabei von Artillerie und Luftwaffe unterstützt. Der russische Beschuss zerstörte nach Darstellung von Selenskyj die gesamte kritische Infrastruktur der Stadt. Dies gelte auch für mehr als zwei Drittel der Wohngebäude, sagt er in einer Fernsehansprache. Die Einnahme von Sewerodonezk sei gegenwärtig das Hauptziel der russischen Truppen.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow nennt die Einnahme des Donbass eine "bedingungslose Priorität" für sein Land und spricht dabei von einer Befreiung. Russland erkenne Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten an, sagt Lawrow dem französischen Sender TF1 einer Meldung der Nachrichtenagentur RIA zufolge. Die anderen Teile der Ukraine sollten selbst über ihre Zukunft entscheiden.
Die einstige Großstadt Sewerodonezk ist seit Monaten das Ziel russischer Angriffsbemühungen. Sie ist der letzte Punkt, den das ukrainische Militär in der Region Luhansk noch unter Kontrolle hält.
Neben der Stadt selbst würden auch aktive Kämpfe um die nahe gelegenen Städte Bachmut und Kurachowe geführt. "Das Hauptziel des Feindes ist es, unsere Truppen in den Gebieten Lyssytschansk und Sjewjerodonetsk zu umzingeln und die wichtigsten Logistikrouten zu blockieren", heißt es dazu im Lagebericht. Darüber hinaus bereiteten die russischen Truppen weiterhin die Querung des Flusses Siwerski Donez vor. Entsprechend würden die Truppen in der Region aufmunitioniert und betankt.
Weiter westlich in Richtung Slowjansk sind russische Sturmversuche den ukrainischen Berichten nach abgewehrt worden. Im Süden des Landes, an der Grenze zwischen den Gebieten Cherson und Mykolajiw, wo Kiewer Truppen am Vortag in die Offensive gegangen waren, versuchten die russischen Streitkräfte nun die dabei verloren gegangenen Ortschaften zurückzuerobern. Unabhängig konnten die Angaben nicht überprüft werden.