Regierung schlägt Alarm

USA: 'Akute Gefahr' eines IS-Anschlags am Flughafen Kabul

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Lage um Airport offenbar etwas entspannt - G7-Sondergipfel am Dienstag, Italien um G20-Sondergipfel bemüht. 

Die US-Regierung hat Medienberichte über die Gefahr eines Anschlags der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) am Flughafen Kabul oder in der Umgebung bestätigt. "Die Bedrohung ist real, sie ist akut, sie ist anhaltend", sagte der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, am Sonntag im Sender CNN. Eine Woche nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan versuchen die Taliban, das Chaos um den Kabuler Flughafen nach wie vor in den Griff zu bekommen.

"Wir arbeiten intensiv mit unseren Geheimdiensten zusammen, um herauszufinden, woher ein Angriff kommen könnte", sagte Sullivan. Man nehme die Warnungen "absolut todernst". Die militant-islamistischen Taliban und der regional aktive Zweig des IS sind verfeindet und haben in der Vergangenheit gegeneinander gekämpft.

US-Einsatz

Die Taliban hatten vor einer Woche die Macht in Afghanistan übernommen. Auch eine Woche später ging die US-Regierung bei ihrer Evakuierungsmission von Tausenden amerikanischen Staatsbürgern in Afghanistan aus. "Wir haben mit einigen Tausend Amerikanern Kontakt aufgenommen", sagte Sullivan. "Und wir arbeiten hart daran, mit jedem dieser Menschen und jeder ihrer Familien Pläne zu machen, um sie sicher zum Flughafen zu bringen." Man arbeite unermüdlich daran, auch die afghanischen Unterstützer des US-Einsatzes aus dem Land herauszubringen.

Sullivan sagte, die Szenen außerhalb des Flughafens seien herzzerreißend. "Wir arbeiten jede einzelne Minute, jede einzelne Stunde, jeden einzelnen Tag daran, so viel Ordnung und Sicherheit wie möglich herzustellen." Auch Amerikaner hätten Schwierigkeiten, durch das Chaos außerhalb des Flughafens zu gelangen. "Das ist eine logistische Herausforderung, an der wir in den letzten 72 Stunden gearbeitet haben. Wir glauben jetzt, dass wir alternative Methoden haben, um die Amerikaner zum Flughafen zu bringen." Sullivan machte keine Angaben dazu, um welche Methoden es sich handeln könnte.

Ausgeflogen

US-Streitkräfte und ihre Koalitionspartner in Afghanistan haben seit Beginn der US-Evakuierungsmission vor gut einer Woche nach Angaben aus US-Regierungskreisen mehr als 25.000 Menschen aus Kabul ausgeflogen. Aus dem Weißen Haus hieß es am Sonntag, in den vorangegangenen 24 Stunden seien 3.900 Menschen an Bord von US-Militärflugzeugen und ebenso viele an Bord von Flugzeugen der Koalitionspartner in Sicherheit gebracht worden. Seit dem 14. August seien damit insgesamt 25.100 Menschen ausgeflogen worden. Seit Ende Juli - vor dem offiziellen Beginn der amerikanischen Evakuierungsmission - liege diese Zahl bei rund 30.000.

Auch andere Länder setzten ihre Evakuierungen am Sonntag fort. So flog die deutsche Bundeswehr weitere 180 Menschen aus. Eine Maschine des Typs A400M sei auf dem Weg in die usbekische Hauptstadt Taschkent, schrieb die Bundeswehr am Sonntagnachmittag bei Twitter. Insgesamt hat die deutsche Armee bisher 2.500 Personen ausgeflogen. Die Niederlande verstärkten ihren militärischen Rettungseinsatz. Dafür seien am Sonntag weitere Soldaten nach Kabul aufgebrochen, teilte das Verteidigungsministerium in Den Haag mit. Sie sollen die 62 bereits vor Ort eingesetzten Militärangehörigen bei der Evakuierungsaktion unterstützen.

Strategie

Italien will bei seiner Evakuierung insgesamt ungefähr 2.500 Afghanen aus Kabul ausfliegen. Das sagte Außenminister Luigi Di Maio. 1.600 Menschen seien bereits über die Luftbrücke des italienischen Militärs aus Afghanistan geholt worden. Italien und die internationale Gemeinschaft müssen nach Meinung Di Maios außerdem verhindern, dass Afghanistan zu einem "Paradies für den Terrorismus" wird. Es sei zudem wichtig, gegen den Drogenhandel und die Produktion von Opium dort vorzugehen. Italien setze sich weiter dafür ein, dass in den kommenden Wochen ein G20-Sondergipfel einberufen werde. Eine Zusammenkunft der 20 wichtigsten Industrie-und Schwellenländer (G20) sei wichtig, um das Thema Afghanistan anzugehen. Italien hält derzeit den G20-Vorsitz. Dort könnten auch Länder wie Indien, China und Russland mit einbezogen werden, die wichtig für die Afghanistan-Strategie seien, betonte Di Maio.

Der britische Evakuierungseinsatz in Kabul hat nach Angaben der britischen Regierung Fahrt aufgenommen. In den vergangenen 24 Stunden seien 1.721 Menschen in acht Maschinen der Royal Air Force ausgeflogen worden, teilte ein Staatssekretär des Verteidigungsministeriums am Sonntag mit. Anders als am Vortag gelinge es nun besser, geordnete Schlangen zu bilden, die Wartenden auf den Flughafen zu bringen und die Flüge zu koordinieren. Das liege auch daran, dass die Taliban dies nicht blockierten.

Regierung

Die Regierung rief daher am Sonntag berechtigte britische Staatsbürger und Ortskräfte wieder auf, zum Flughafen zu kommen. Die Lage könne sich zwar wieder ändern, aber wenn sie bleibe wie aktuell, könne man eine große Anzahl an Menschen ausfliegen. Insgesamt habe man bisher mehr als 5.000 Menschen ausgeflogen, sagte der britische Botschafter in Kabul, Laurie Bristow, am Sonntagabend in einem Twitter-Video. Es gebe aber weiterhin extrem viel zu tun.

Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace bezeichnete es indes als unmöglich, alle Schutzbedürftigen rechtzeitig auszufliegen. Keine Nation werde dazu in der Lage sein, bis zur Frist am 31. August alle zu retten, sagte Wallace der "Mail on Sunday". Pessimistisch hinsichtlich des Schicksals tausender afghanischer Ortskräfte äußerte sich auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.

Pentagon

Die US-Regierung aktiviert in einem seltenen Schritt nun die zivile Luftreserve und verpflichtet kommerzielle Fluggesellschaften zur Unterstützung der Evakuierungsmission in Afghanistan. Betroffen von der Anordnung seien insgesamt 18 Flugzeuge von 6 US-Airlines, teilte das Pentagon am Samstag mit. Diese Maschinen sollten nicht den Flughafen in Kabul ansteuern, sondern für den Weitertransport von Evakuierten aus Zwischenstationen eingesetzt werden. Damit würden Kapazitäten von Militärflugzeugen entlastet, die für die Luftbrücke von und nach Kabul genutzt werden könnten, hieß es. Die USA fliegen schutzsuchende Afghanen zunächst in andere Länder aus, bevor sie weiter in die Vereinigten Staaten reisen können.

Taliban schossen am Sonntag Augenzeugen zufolge vor dem Kabuler Flughafen in die Luft und setzten Schlagstöcke ein, um die zum Airport drängenden Menschen in geordnete Warteschlangen zu zwingen. Tausende von Menschen bemühten sich verzweifelt, Plätze in den Flugzeugen zu ergattern, mit denen westliche Länder ihre Landsleute und von Verfolgung bedrohte Afghanen außer Landes fliegen. In den Menschenmengen nahe des Flughafens kamen nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums allein am Samstag sieben afghanische Zivilisten ums Leben. In den vergangenen sieben Tagen habe es hier sogar mindestens 20 Tote gegeben, sagte ein NATO-Vertreter zu Reuters. "Unser Fokus ist die Evakuierung aller Ausländer so schnell wie möglich."

Zu Tode getrampelt

Unter den Toten außerhalb des Flughafens war einem Bericht der "New York Times" zufolge auch ein zweijähriges Mädchen. Die Tochter einer afghanischen Übersetzerin, die für eine amerikanische Firma in Kabul gearbeitet haben soll, wurde demnach am Samstag zu Tode getrampelt. "Ich habe reinen Terror gefühlt", sagte die Frau der Zeitung in einem Telefoninterview aus Kabul. "Ich konnte sie nicht retten."

Am frühen Nachmittag sagte der deutsche Brigadegeneral Jens Arlt, die Lage am Flughafen entspanne sich etwas. Grund dafür sei, dass sich in der Bevölkerung herumgesprochen habe, dass einige Tore zum Flughafen aus Sicherheitsgründen vorerst geschlossen blieben. "Das ist immer nur eine Momentaufnahme", schränkte Arlt jedoch ein.

Bankomaten leer

Aus Kabul gab es zugleich weiterhin besorgniserregende Meldungen. Einer Reportage des Fernsehsenders Ariana News zufolge kümmert sich eine Familie aus Kabul seit einer Woche um einen sechsjährigen Buben, den sie am Flughafen im Stacheldraht festhängend gefunden hatte. Auch lokale Journalisten berichteten in sozialen Medien, dass Menschen Fotos von vermissten Kindern am Flughafen anbringen. Einwohner Kabuls berichteten der Deutschen Presse-Agentur zudem, dass das Bargeld ausgeht; die meisten Bankomaten seien praktisch leer.

Ein Vertreter der radikalislamischen Taliban sagte, man wolle volle Klarheit über den Abzugsplan der ausländischen Truppen. "Die Bewältigung des Chaos außerhalb des Flughafens von Kabul ist eine komplexe Aufgabe", sagte er zu Reuters. Der NATO-Vertreter erläuterte, die Truppe des westlichen Militärbündnisses hielten sich strikt von den Außenbereichen des Airports fern, um Zusammenstöße mit den Taliban zu vermeiden.

Großbritannien

Der britische Premierminister Boris Johnson berief unterdessen ein virtuelles Spitzentreffen der führenden Industrieländer (G7) zum Thema Afghanistan am Dienstag ein. Großbritannien hat gegenwärtig den Vorsitz der Staatengruppe. "Es ist entscheidend, dass die internationale Gemeinschaft zusammenarbeitet, um sichere Evakuierungen sicherzustellen, eine humanitäre Krise zu verhindern und das afghanische Volk zu unterstützen, die Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre zu sichern", erklärte Johnson.

Die humanitäre Lage in Afghanistan könnte sich deutlich verschärfen. Zwischen Jahresbeginn und Anfang August sind mehr als 550.000 Menschen in dem Krisenland wegen Gefechten aus ihren Städten und Dörfern geflohen. Das geht aus Daten der UNO-Agentur zur Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) hervor. Im Vorjahr waren es im gleichen Zeitraum rund 165.000 Binnenflüchtlinge gewesen. Weitere fünf Millionen Menschen im Land gelten als Langzeitvertriebene.

Al-Kaida

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF warnen, dass die Versorgung von Millionen mit Arzneimitteln und anderen wichtigen Gütern immer schwieriger werde. Das dürfe in der Diskussion um Rettungsflüge nicht vergessen werden, teilten die beiden Organisationen mit. Mit 18 Millionen Menschen, die Hilfe benötigten, sei Afghanistan schon vor den Ereignissen der vergangenen Woche der drittgrößte humanitäre Einsatz weltweit gewesen.

Die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) hat sich nach der Machtübernahme der Taliban besorgt über die politische Zukunft Afghanistans geäußert. Die "künftige Führung" des Landes und die internationale Gemeinschaft müssten sicherstellen, "dass Afghanistan nie wieder als Plattform oder Zufluchtsort für Terroristen genutzt wird und verhindern, dass terroristische Organisationen dort Fuß fassen", erklärte die Organisation am Sonntag in Jeddah in Saudi-Arabien. Während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 hatten die Taliban dem Terrornetzwerk Al-Kaida und dessen Anführer Osama bin Laden Unterschlupf gewährt. Einem Taliban-Sprecher zufolge ist Al-Kaida in Afghanistan nicht vertreten. Man unterhalte zu ihr keine Beziehungen, sagt Mohammad Naim dem TV-Sender Al-Hadath.

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