EU will Monopol des BIP als Fortschrittsbarometer brechen

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Ein PS-starkes Auto kaufen, auch wenn es der Umwelt schadet, bei neuen Kleidern nicht knausern, auch wenn sie vielleicht von Kinderhand stammen: In der Krise kurbelt solches Verhalten das Bruttoinlandsprodukt (BIP) an, das die Wirtschaftsleistung der Volkswirtschaften misst. Viele Ökonomen halten das BIP wegen seiner Nebenwirkungen jedoch für überholt. In der EU soll es deshalb bald ein neues Fortschrittsbarometer geben, das auch die Umwelt- und Lebensqualität einbezieht.

"Das BIP misst alles - außer das, wofür sich das Leben lohnt", sagte Robert Kennedy, der jüngere Bruder des früheren US-Präsidenten, bereits 1968. Denn Unternehmen, die viele Zigaretten oder Stahl produzieren, steigern zwar nach traditionellem Verständnis die Wirtschaftsleistung, aber sie schädigen womöglich auch die Gesundheit ihrer Kunden oder das Klima. Wer Vaterschaftsurlaub nimmt oder seine kranke Oma zu Hause pflegt, dessen Leistung schlägt sich dagegen nicht in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nieder.

"Um die Welt zu verändern, müssen wir die Art und Weise ändern, wie wir die Welt verstehen", betonte EU-Umweltkommissar Stavros Dimas am Dienstag in Brüssel. "Dafür müssen wir über das BIP hinausgehen."

Das neue EU-Fortschrittsbarometer soll erstmals auch Faktoren einbeziehen wie die Verschmutzung von Erde, Luft und Wasser sowie die Gesundheit der Bürger, Freizeit- oder Wohnangebote. Ein erstes Pilotprojekt soll 2010 an den Start gehen.

Die Mängel des BIPs liegen in seiner Geschichte begründet, erläutert der österreichische Ökonom Stefan Schleicher, der die EU bei der Ausarbeitung der neuen Fortschrittsindizes berät. Das BIP stammt aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. "In dieser Zeit der Großen Depression wurde jeder Produktionsvorgang als wohlstandserhöhend empfunden", sagt Schleicher. Doch seit den 1970er Jahren haben Ökonomen gravierende Mängel an dem Modell festgestellt.

Chinas Nettozuwachs bei weitem niedriger

Das enorme chinesische Wachstum von bis zu 8 Prozent selbst im Krisenjahr ist nach Einschätzung vieler Ökonomen dem Raubbau an Umwelt und Menschen geschuldet. "Der Nettozuwachs Chinas ist bei weitem niedriger als mit den BIP-Zahlen messbar", sagt Schleicher.

Als weiteres Negativbeispiel nennt Schleicher die Abwrackprämien, die viele EU-Länder gegen die Krise aufgelegt haben. "Hier werden Autos vernichtet, die völlig in Ordnung waren." Die BIP-Statistiker freut's, denn die Umsätze der kriselnden Autoindustrie steigen.

An Alternativen zum BIP wird schon seit Jahren gearbeitet. In Frankreich will eine Expertenkommission unter Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz bis Ende 2009 Vorschläge präsentieren. Globalisierungskritische Organisationen unterstützen das Konzept des "Ökologischen Fußabdrucks", der misst, wie viele Ressourcen der Mensch verbraucht.

Bruttonationalglück in Bhutan

Das südasiatische Königreich Bhutan wiederum misst die Zufriedenheit seiner Bewohner sogar nach "Bruttonationalglück" (BNG). Zentrale Faktoren sind Wohlbefinden, Gesundheit, Bildung, Staatsführung, ökologische Vielfalt, aber auch das Festhalten an buddhistischen Werten. Auch einen weltweiten "Happy Planet Index" gibt es bereits - darauf belegt Deutschland einen traurigen Platz 81, deutlich hinter Ländern wie Kolumbien und Kuba.

Glück lässt sich allerdings nur schlecht in Zahlen fassen. Lebensqualität und Umweltschutz lässt sich dagegen an handfesten Kriterien messen. Darauf will die EU setzen. Zwar werde es das BIP und die dreimonatlichen Wachstums- oder Rezessionszahlen des Statistischen Bundesamts noch lange geben, glaubt Ökonom Schleicher. Aber sein Monopol wird fallen - zugunsten eines Fächers von Indikatoren.

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