Uschi Fellner reiste mit dem 'Engel Äthiopiens' durch ein Land, das demütig macht...
Kein Wasser. Keine Schulpflicht. Keine Frauenrechte.
Das kleine Mädchen heißt Betulit und weiß nicht, wie alt es ist. Sechs oder sieben, deutet sie mit den Fingern. Sie sieht aus wie höchstens vier. Betulit ist höchstens 18 Kilo schwer. Sie trägt einen gelben Wasserkanister fest mit Tüchern um den kleinen Leib gebunden. Und eigentlich hat sie gar keine Zeit mehr, um sich mit den seltsamen Fremden, die sie bei jeder Bewegung fotografieren, zu unterhalten. Der Weg vom Brunnen nach Hause dauert eine gute Stunde, je nachdem, wie schnell sie geht. Zuhause, das ist eine zehn Quadratmeter große Lehmhütte, in der sie mit ihrer Mutter und ihren vier Geschwistern schläft, kocht und lebt. Was wollt ihr eigentlich von mir, fragen ihre Augen, ich muss los...
Wir finden Betulit zwanzig Minuten später am Rande der steinigen Straße, an einen Felsen gelehnt. „Warum gehst du nicht heim?“, fragt Almaz Böhm. „Deine Mutter wartet sicher auf das Wasser...“
Betulit schweigt. Wir schauen auf den nassen Fleck neben dem Felsen. Die Kleine hat den Kanister ausgeleert. „Warum hast du das Wasser auf den Boden geschüttet?“, fragt Almaz Böhm. Und kennt die Antwort. Müde. Nichts mehr tragen wollen. Nicht mehr ständig funktionieren müssen, arbeiten müssen... einmal schlimm sein. Das unbewusste Recht auf Kindheit ausüben. Kostbares Wasser auszuleeren ist schlimm. Betulit lächelt.
© Inge Prader
Auf der Hochebene von Midda, einer der wasserärmsten Regionen der Welt, wurde eine Infrastruktur für die 93.000 in den Bergen lebenden Menschen geschaffen. „Leben mit genügend Wasser, das ist hier das Ziel“, sagt Böhm.
© Inge Prader
Der Mann auf dem Foto kennt sein Alter nicht. Er schätzt sich auf 40 Jahre. Äthiopier haben eine Lebenserwartung von 50 Jahren.
© Inge Prader
Sina arbeitet täglich auf dem Feld. Eigentlich sollte sie in der Schule sein. „Heute habe ich frei“, sagt sie. Die Kinder lügen, weil sie zum Arbeiten gebraucht werden...
© Uschi Fellner
Die Kinder erkennen sich auf den Fotos nicht, weil keiner einen Spiegel besitzt.
© Inge Prader
800 Mitarbeiter in Äthiopien und 500 in Europa machen sich mit Almaz Böhm für 4 Millionen Menschen stark.
© Inge Prader
836 Stufen ließ Almaz Böhm in den steilen Fels schlagen, damit die Kinder Middas täglich zur Schule gehen können.
© Inge Prader
KH-Böhm-Denkmal in Midda.
© Inge Prader
Kochstelle. Almaz Böhm zeigt einen „modernen Lehm-Herd“, der offenes Feuer ersetzt.
© Inge Prader
Almaz Böhm, 46, leitet die von KH Böhm gegründete Hilfsorganisation „Menschen für Menschen“.
© Uschi Fellner
Leben in der Hütte. So sieht Luxus aus. 10 Quadratmeter für eine Acht-Personen-Family.
© Inge Prader
Karis schleppt. Entweder Wasser, oder ihre Geschwister.
© Inge Prader
Schwere Arbeit. Beim Brunnen werden die Kanister gefüllt.
© Inge Prader
Die kleine Betulit schleppt täglich 15 Liter nach Hause...
© Inge Prader
Die kleine Betulit schleppt täglich 15 Liter nach Hause...
© Inge Prader
Azeb ist eine junge Mutter und hat AIDS.
© Inge Prader
Ihr Mann und ihr Kind sind gestorben. „Ich werde leben“, sagt sie und bereitet für uns in ihrer Hütte ein Mahl.
© Inge Prader
Wasser holen vom nächstgelegenen Brunnen ist der Tages-Schwerpunkt bei den Frauen.
© Inge Prader
Genitalbeschneidungen haben in Äthiopien Tradition. Mädchen wird die Klitoris weggeschnitten, die Scheide zugenäht. Viele werden verrückt.
© Uschi Fellner
Praders Wassertest. Alleine das Umbinden des Kanisters war schon eine Prozedur... aber tapfer!
© Inge Prader
25 Kilo Wasserlast am Rücken. Äthiopierinnen gehen damit täglich fünf bis zehn Kilometer. Ich schaffte einen halben Kilometer...
Seit drei Tagen hat Inge, die beste Fotografin von allen, uneingestandene Rückenschmerzen („Mir geht’s eh gut, wirklich!“). Na und?, würde man fragen, wäre man hier geboren. Unterwegs im Jeep durch das Hochland Äthiopiens, Bergstraßen von über 3.000 Metern Höhe. Rauf und runter. Bisherige Bilanz auf dem fehlenden Asphalt: Drei Reifenplatzer. Und atemlos machendes Staunen darüber, was hier aus dem Nichts entstanden ist.
93.000 Menschen leben in dieser Region, die als ärmste der Welt gilt. Vor zehn Jahren, als Karlheinz und Almaz Böhm mit ihrer „Menschen für Menschen“-Hilfsorganisation das Gebiet landwirtschaftlich zu entwickeln begannen, starb jedes zweite Kind, oft schon kurz nach der Geburt. Der Wassermangel legte das Leben lahm. In den Tälern, wo die Wasserversorgung einfacher wäre, herrscht bis heute Malariagefahr, die Menschen müssen „nach oben“ ausweichen.
„Schau, wie wunderschön es hier ist“, sagt Almaz Böhm und ihre Augen leuchten wie Weihnachtskerzen. „Es gibt teilweise Straßen, wir arbeiten an der Stromversorgung, wir bauen Brunnen, es gibt Wasser... wir sind noch lange nicht am Ziel, aber wir sind auf einem guten Weg.“
Jeder zweite Bewohner in diesem verkarsteten und trotzdem überwältigend schönen Gebiet lebt noch immer unter der Armutsgrenze. Aber die Menschen haben begriffen, worum es geht. Zum Beispiel, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Offiziell kann nur jeder zweite bis dritte Erwachsene in Äthiopien lesen und schreiben. Aber was ist schon offiziell...? Offiziell gibt es keine Schulpflicht. Offiziell ist, was man zum Leben braucht. Die Arbeitskraft der Kinder. Jede Hand, die mithilft, zählt...
Drei Stunden dauert der Schulweg von Ephrem. Gegen fünf Uhr früh verlässt er sein Dorf, steigt 900 in den Stein gehauene Stufe nach Midda hinauf. Oben, am Beginn der Treppe, dann noch eine halbe Stunde geradeaus, bis zur Schule, die „Menschen für Menschen“ gebaut hat. Die Lehrerin ist stolz auf ihn. Ephrem kommt beinahe jeden Tag. Nicht selbstverständlich für einen Buben von acht Jahren. Der nach dem Rechnen und Lesen und Schreiben wieder drei Stunden zurück in sein Dorf gehen muss.
Ja, Schule ist gut, sagt der Kleine. In der Klasse hängt ein Spiegel, da schaue er jeden Tag hinein. Erst seit er in die Schule geht, wisse er, wie er aussieht. Er gefällt sich. Seit er in den Spiegel schauen kann, wäscht er sich auch. Er will schön ausschauen. Und gesund bleiben. Wer sich wäscht, wird nicht so oft krank, auch das lernt man hier. Ephrem ist stolz, das zu wissen. Seinen Eltern hat das nie jemand erklärt.
242 Schulen haben Karlheinz und Almaz Böhm in Äthiopien bis jetzt gebaut. Und 86 Krankenhäuser. Über 4 Millionen Menschen erhielten durch die landwirtschaftlichen und sozialen Hilfsprojekte aktive Hilfe zur Selbstentwicklung. Das ist unvorstellbar viel. Und ein unvorstellbar mühevoller Prozess.
Als sich Almaz Teshome, im äthiopischen Jijiga geborenes sechstes Kind einer Großfamilie, 1986 um die Stelle der Abteilungsleiterin für Rinderzucht bei „Menschen für Menschen“ bewarb, hatte sie keinen Schimmer davon, wie sehr das ihr Leben verändern sollte.
Almaz stammt aus gutbürgerlichen Verhältnissen, durfte die Schule besuchen, später Landwirtschaft studieren. Von Karlheinz Böhm, dem feschen Schauspieler aus den Sissi-Filmen, der aufgrund einer „Wetten, dass..?“-Wette vor dreißig Jahren den Grundstock für „Menschen für Menschen“ legte, hatte sie noch nie gehört.
„Bereut? Nein, nie, nie, nie“ habe sie es bereut, was sie sich mit der Stellenbewerbung damals eingehandelt hat. Praktisch ein ganzes Land, das es zu missionieren galt. Ihr Land. Ihre Leute. „Ich bin so privilegiert“, sagt Almaz, „wenn es so etwas wie Schicksal gibt, dann war das wahrscheinlich vorbestimmt...“
Als Almaz und Karlheinz Böhm vor achtzehn Jahren am Wörthersee heirateten, saßen die Paparazzi in den Bäumen. Der dreimal geschiedene Filmstar und die Afrikanerin waren die Sensation der Weltpresse. „Er war und ist immer noch die Liebe meines Lebens“, sagt Almaz Böhm. „Und neben meiner Großmutter, die mich aufzog, der wichtigste Mensch.“
Mit ihrer „Enaye“ (was der deutschen Koseform von Mami/Omi entspricht) wuchs Almaz Hand in Hand auf. „Wir waren eins. Sie hat mir unendlich viel Liebe mitgegeben, ohne sie würde das alles hier nicht so funktionieren...“
Wir machen Station bei Azeb, einer jungen Frau, die mit ihren vier Kindern in einer kleinen Lehmhütte lebt. Azeb wurde von ihrem Mann mit AIDS infiziert. Ihr Mann ist tot. So wie auch die jüngste Tochter, ebenfalls positiv getestet und vor vier Monaten gestorben. Die AIDS-Rate in Äthiopien ist hoch, offiziell an die 40 Prozent.
Ob sie ihrem Mann böse wäre, weil er sie angesteckt hat, fragen wir Azeb. „Böse?“ Was heißt das schon. Es ist, wie es ist. Sie wird gesund bleiben. Sie nimmt die Medikamente, die Almaz und ihre Organisation hierher gebracht haben. Sie wird überleben, sagt sie. Für ihre anderen Kinder.
Almaz umarmt sie herzlich. Azeb ist still. Aber ihre Augen leuchten. Almaz bedeutet in der Landessprache Diamant.
Lesen Sie mehr am Samstag in Ihrer MADONNA:
- Asefa, Anti-Beschneidungs-Vorkämpferin, im Interview
- Almaz Böhm im Gespräch über 'Menschen für Menschen'
MADONNA vom 12.02.2011