Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) hat sich enttäuscht über das Ergebnis der EU-Zukunftskonferenz gezeigt.
Sie sei "leider nicht wie erhofft verlaufen", sagte Edtstadler am Montag bei der Präsentation des österreichischen Aktivitätenberichts zur Konferenz in Wien. "Zu viel Zeit ging mit prozeduralen Fragen und inter-institutionellen Streitigkeiten verloren. Zu wenig wurde über akute Probleme und konkrete Lösungen diskutiert", sagte die frühere EU-Abgeordnete.
Dabei müsse die EU "umgehend wesentliche Reformen einleiten", so Edtstadler. "Unser Fortschritt und unser europäisches Lebensmodell sind gefährdet", sagte sie mit Blick auf den Ukraine-Krieg und die damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten wie Inflation oder Unterbrechung von Lieferketten.
Edtstadler äußerte sich unmittelbar vor der feierlichen Übergabe des Abschlussberichts der Konferenz an die Spitzen der EU-Institutionen in Straßburg. Was den österreichischen Beitrag betrifft, zog die ÖVP-Politikerin eine positive Bilanz. 1.421 Beiträge zur Konferenz seien aus Österreich gekommen, womit das Land "im EU-Ländervergleich an siebenter Stelle" stehe, gemessen an der Bevölkerungszahl sogar unter den Top 6 der 27 Staaten.
"Wir sehen: Die Weiterentwicklung der Europäischen Union ist den Österreicherinnen und Österreichern ein Anliegen", zeigte sich Edtstadler erfreut. Sie hob in diesem Zusammenhang auch die Aktivitäten der Bundesregierung hervor. "Im Schnitt gab es in einem Jahr hierzulande jeden zweiten Tag eine Aktivität im Rahmen der EU-Zukunftskonferenz."
Inhaltlich bekräftigte Edtstadler die unter Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) vorgegebene europapolitische Linie, nämlich dass es in vielen Bereichen "mehr Vergemeinschaftung als bisher" brauche, aber "all jene Probleme, die besser in den Mitgliedsstaaten gelöst werden können, (...) auch in der nationalen Verantwortung bleiben" sollten. Die von Bürgern, Zivilgesellschaft und Wirtschaft geäußerten Ideen "geben die Richtung vor, in die sich die EU entwickeln muss. Daraus abgeleitete tatsächliche Reformen auf europäischer Ebene suchen wir bis heute aber vergebens", beklagte Edtstadler.
Die Europaministerin skizzierte daher ausführlich eigene Vorschläge. Zunächst sollte Europa "seine eigenen Interessen in den Vordergrund stellen", forderte sie etwa einen Ausbau der europäischen Verteidigung, einen funktionierenden Außengrenzschutz und neuen Elan im Erweiterungsprozess, um etwa dem Einfluss von Moskau und Peking in Europa entgegenzutreten.
Edtstadler stellte sich hinter eine EU-Annäherung der Ukraine und bezeichnete diese als "ein wichtiges Signal". Doch müssten auch am Westbalkan entsprechende Schritte gesetzt werden. "Wenn wir der Ukraine Grünes Licht geben wollen, dann muss es auch Grünes Licht für Albanien und Nordmazedonien geben. Wenn die Ukraine Kandidatenstatus bekommen soll, dann sollte auch Bosnien-Herzegowina Kandidatenstatus erhalten", forderte Edtstadler.
Im Wirtschaftsbereich bekräftigte Edtstadler die Kritik an der EU-Bürokratie. "Unser Anspruch muss sein, Weltmeister der Innovation, Champion der Wertschöpfung und damit Vorreiter für höchste Lebensqualität zu sein. Aktuell sind wir Weltmeister der Überregulierung." Die EU müsse sich "an den Chancen orientieren und nicht an den Risiken", forderte sie etwa einen Abbau bestehender Barrieren im Binnenmarkt, die Stärkung des Kapitalmarkts sowie ein "europaweites Bekenntnis zur Verhinderung von 'Gold-Plating'", also dass Mitgliedsstaaten höhere Schutzstandards haben als in den EU-Richtlinien vorgegeben.
Edtstadler sprach sich auch für eine Flexibilisierung des europäischen Arbeitsmarktes, etwa zur Erleichterung von länderübergreifendem Remote Work, aus. Zudem sollen die Einwanderungsmöglichkeiten für Fachkräfte erleichtert werden. Finanzpolitisch pochte sie auf die Einhaltung der Maastricht-Kriterien, richtete aber auch einen Appell an die Europäische Zentralbank, angesichts der hohen Inflation ihre Null-Zins-Politik zu überdenken. "Gefordert ist auch die Europäische Zentralbank. Bei mittlerweile acht Prozent Inflation sind wir weit weg vom Ziel der zwei Prozent", sagte sie in Richtung der Frankfurter Währungshüter.
Institutionell sprach sich Edtstadler für eine rechtliche Verankerung des bisher nur informell praktizierten Spitzenkandidatensystems bei der EU-Wahl aus. Weiterhin solle jedes Land seinen EU-Kommissar haben und sich das Europaparlament "endlich auf einen einzigen ständigen Sitz in Straßburg oder Brüssel festlegen". Im Streit um Verletzungen der EU-Grundwerte forderte Edtstadler "eine Verankerung der Rechtsstaatskonditionalität in den EU-Verträgen". In den Artikel-7-Verfahren (gegen Polen und Ungarn) müsse man "proaktiv" Lösungen suchen und "die festgefahrene Situation mit Verständnis für alle Seiten auflösen".
In einer anschließenden Diskussion mit Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) räumte Edtstadler ein, dass sich nicht alle Vorschläge werden umsetzen lassen, und verwies diesbezüglich auf das Einstimmigkeitserfordernis. Sie betonte, dass das Ende der Zukunftskonferenz "erst der Anfang" sei, und nun umgesetzt werden müsse. Schüssel zeigte sich skeptisch zur Idee, nun einen formellen Konvent einzuberufen. Man sollte sich vielmehr darauf konzentrieren, was man "im Rahmen der geltenden Verträge machen" könne. Zugleich plädierte er mit Blick auf Rechtsstaatssünder wie Ungarn dafür, dass die EU angesichts der jetzigen "Außenbedrohungen" versuche, die inneren Spannungen zu mildern, statt sie zu verstärken.