Nicht gerade optimistisch ist der internationale Ausblick auf das kommende Jahr.
Zur russischen Aggression in der Ukraine und der israelischen Kampagne gegen die Terrororganisation Hamas könnte 2024 ein dritter Krieg mit globalen Folgen kommen, wenn Taiwan bei der Präsidentenwahl im Jänner seinen Unabhängigkeitskurs bekräftigt. Es ist die erste Schicksalswahl des Jahres, das auch die politischen Karten in der EU (Juni) und den USA (November) neu mischt.
Die abtrünnige Provinz will nichts von der vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping betriebenen Eingliederung in den Staatsverband der kommunistischen Volksrepublik wissen. Bei der Präsidentenwahl am 13. Jänner gilt der bisherige Vizepräsident William Lai als Favorit. Er dürfte den Unabhängigkeitskurs der aktuellen Staatschefin Tsai Ing-wen fortsetzen, die nicht neuerlich kandidieren darf.
Drohende Eskalation
Xi hat im November bei einem Treffen mit US-Präsident Joe Biden klargemacht, dass er an seinem Kurs festhalten will. "Sehen Sie, Frieden ist (...) schön und gut, aber irgendwann müssen wir zu einer umfassenderen Lösung übergehen", sagte er nach US-Angaben, nachdem Biden für einen Erhalt des Status Quo im Taiwan-Konflikt geworben hatte. Washington erkennt die Insel zwar völkerrechtlich als Teil der Volksrepublik China an, ist Taiwan aber zugleich durch eine Bündnisverpflichtung verbunden. Eine chinesische Militäraktion gegen Taiwan würde somit direkt zu einer Konfrontation der beiden wichtigsten Weltmächte USA und China führen.
Eine solche Eskalation hatten die USA im Ukraine-Krieg bisher vermeiden können. Nach der ohne durchschlagenden Erfolg vergangenen ukrainischen Gegenoffensive dürfte der zweite Jahrestag des Kriegsbeginns am 24. Februar im Zeichen eines Patts zwischen Moskau und Kiew verlaufen. Ob es zu Friedensverhandlungen kommt, scheint fraglich. Sie werden kaum vor den russischen Präsidentenwahlen am 17. März beginnen, bei denen sich Machthaber Wladimir Putin eine weitere sechsjährige Amtszeit sichern wird. Die Amtszeit seines ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj läuft im Frühjahr ebenfalls aus, doch verbietet die ukrainische Verfassung eine Wahl zu Kriegszeiten. Deshalb dürfte das Mandat Selenskyjs verlängert werden.
Die wichtigste Wahl des Jahres findet am 5. November statt. Die US-Bürger küren an diesem Tag einen neuen Präsidenten, und es sieht alles nach einer Neuauflage des Duells des Jahres 2020 zwischen Donald Trump und Joe Biden aus, allerdings in vertauschten Rollen. Eine Abwahl Bidens könnte auch große Auswirkungen auf den weiteren Verlauf des Krieges in der Ukraine haben, weil die oppositionellen Republikaner der US-Unterstützung für die Regierung in Kiew kritisch gegenüberstehen. So sagte der US-Außenstaatssekretär James O'Brien erst kürzlich, dass die US-Regierung sich für eine Fortsetzung des Krieges bis Ende 2024 rüste. "Es ist einfach eine Tatsache, dass Wladimir Putin keinen Frieden schließen will, bevor er nicht das Ergebnis der Wahl sieht", sagte O'Brien im APA-Interview mit Blick auf Putins offenkundige Hoffnung auf ein Trump-Comeback.
Trump vor Comeback
Trump will es nach seinem äußerst widerwilligen Abschied aus dem Weißen Haus noch einmal wissen. Umfragen sagen ihm einen haushohen Sieg bei den am 14. Jänner in Iowa und am 22. Jänner in New Hampshire beginnenden republikanischen Vorwahlen voraus, und auch im direkten Duell mit Amtsinhaber Biden liegt Trump wieder knapp vorne. Biden feiert kurz nach der Wahl seinen 82. Geburtstag, und Sorgen um seine körperliche und geistige Fitness haben nach mehreren öffentlichen Auftritten, bei denen er zerstreut wirkte, zugenommen.
Trump wäre der zweite abgewählte Präsident der US-Geschichte, dem ein politisches Comeback gelänge. Im Jahr 1892 gewann der Demokrat Grover Cleveland die Präsidentenwahl gegen Amtsinhaber Benjamin Harrison, der ihm vier Jahre zuvor das Präsidentenamt abgejagt hatte. 2020 war Trump der erste US-Präsident seit drei Jahrzehnten gewesen, dem die Bürger eine zweite Amtszeit verweigert hatten.
Dabei wird der umstrittene Rechtspopulist einen großen Teil seines Wahlkampfs vom Gerichtssaal aus führen müssen, ist er doch in vier Strafverfahren angeklagt - in Washington wegen des Wahlbetrugs und Kapitol-Sturms 2021, in Miami wegen der Mitnahme von geheimen Regierungsdokumenten, in New York wegen Schmiergeldzahlungen an eine Pornodarstellerin und in Atlanta wegen der Beeinflussung der Präsidentenwahl 2020 in Georgia. Das letzte Verfahren ist das potenziell gefährlichste, weil es auf regionaler Ebene stattfindet und sich Trump in diesem Fall als Präsident nicht selbst begnadigen könnte. Das inhaltlich schwerwiegendste ist das von Sonderermittler Jack Smith geführte Bundesverfahren zum Wahlbetrug, das am 4. März starten soll - einen Tag vor dem "Super Tuesday", an dem in 15 der 50 US-Staaten die Präsidentschaftsvorwahlen stattfinden.
Vom 6. bis 9. Juni können die EU-Bürger etwas gegen das viel kritisierte Demokratiedefizit der Europäischen Union tun, indem sie an der Europawahl teilnehmen. Gewählt werden 720 Abgeordnete aus 27 Ländern, darunter 20 Mandatare aus Österreich. Große Verschiebungen werden auf EU-Ebene nicht erwartet, da die pro-europäische Allianz aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen ihre Mehrheit behalten dürfte. Zwar werden rechtspopulistischen Parteien Zugewinne vorausgesagt, doch sind sie auf mehrere Fraktionen zersplittert.
Die Europäische Volkspartei (EVP) dürfte sich als stärkste Kraft im Europaparlament behaupten, was wiederum eine Bestätigung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Amt wahrscheinlich macht. Allerdings hat der französische Präsident Emmanuel Macron im Dezember aufhorchen lassen, indem er den früheren EZB-Präsidenten und italienischen Premier Mario Draghi als möglichen Kommissionschef ins Spiel brachte. Jedenfalls mit einer neuen Person in der Brüsseler Behörde vertreten sein wird Österreich, weil Johannes Hahn nach drei Amtszeiten aufhören möchte. Einen Wechsel wird es im Herbst an der Spitze des Europäischen Rates geben, da der belgische Liberale Charles Michel nach zwei Amtszeiten nicht mehr als Gipfelpräsident verlängert werden darf.
Ratsvorsitzländer sind 2024 Belgien (erstes Halbjahr) und Ungarn (zweites Halbjahr). Vor allem die ungarische Ratspräsidentschaft sorgt für gehörigen politischen Sprengstoff. Das Europaparlament hat sich dafür ausgesprochen, der autoritären Orbán-Regierung die Ratsvorsitzagenden zu entziehen. Mit Spannung wird erwartet, ob kommendes Jahr endlich der Beschluss des seit Jahren diskutierten EU-Pakts für Migration und Asyl gelingt. Von der neuen EU-Kommission werden auch konkrete Ansagen erwartet, ob in der kommenden Legislaturperiode erste definitive Erweiterungsschritte in Richtung Westbalkan zu erwarten sind. Die dortigen Länder warten bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten auf die EU-Mitgliedschaft.
In Europa wählen kommendes Jahr Großbritannien und Nordmazedonien (Termine offen), Portugal (März), Belgien (gleichzeitig mit Europawahl im Juni), Kroatien (spätestens September) und Rumänien neue Parlamente. Die größte Aufmerksamkeit wird dabei wohl die britische Unterhauswahl haben, bei der sich Umfragen zufolge ein Machtwechsel abzeichnet. Nach 14 Jahren auf der Oppositionsbank könnte die Labour Party ein Comeback schaffen und Oppositionsführer Keir Starmer in die Downing Street einziehen. Starmer gilt als Pragmatiker, sowohl wirtschaftspolitisch als auch europapolitisch. Starmer will engere Beziehungen mit der EU, hat eine Rücknahme des Brexits aber ausgeschlossen.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen bekommt neue Amtskollegen in Finnland (Jänner), der Slowakei (Mai) und Rumänien (November). In diesen drei Ländern treten die jeweiligen Amtsinhaber nämlich nicht bei den 2024 stattfindenden Präsidentenwahlen an. Bei der finnischen Präsidentenwahl im Jänner versucht Ex-Außenminister Pekka Haavisto bereits zum dritten Mal, erster Grüner Staatschef in der Geschichte Finnlands zu werden, hat aber starke Konkurrenz in Ex-Premier Alexander Stubb, Ex-EU-Kommissar Olli Rehn und dem rechtspopulistischen Parlamentspräsidenten Jussi Halla-aho. In der Slowakei wollen die Ex-Außenminister Ivan Korčok und Jan Kubiš die Nachfolge der liberalen Präsidentin Zuzana Čaputová antreten, die sich gegen eine Wiederkandidatur entschieden hat. Spekuliert wird auch über einen Antritt des umstrittenen linkspopulistischen Premiers Robert Fico. In Rumänien halten sich die Kandidaten für die Nachfolge von Präsident Klaus Johannis noch bedeckt. Präsidentenwahlen finden im Dezember auch in Kroatien statt, und es könnte zu einer Neuauflage des Duells von vor fünf Jahren kommen, als der sozialdemokratische Ex-Premier Zoran Milanović die konservative Amtsinhaberin Kolinda Grabar-Kitarović aus dem Präsidentenpalast verdrängt hatte.
Explosiv dürfte die Lage auf dem Westbalkan bleiben. Nachdem sich der Kosovo-Konflikt heuer deutlich zugespitzt hatte und Belgrad und Prishtina im September am Rande offener Kampfhandlungen standen, hoffen Optimisten auf eine Rückkehr zu den unter EU-Vermittlung erzielten Normalisierungsvereinbarungen. Pessimisten befürchten hingegen, dass die Lage auch in Bosnien-Herzegowina eskalieren könnte, wo Serbenführer Milorad Dodik wegen seines offenen Aufbegehrens gegen den internationalen Bosnien-Beauftragten Christian Schmidt angeklagt wurde.
2024 bringt auch einige runde Jahrestage, etwa jenen der großen EU-Osterweiterung (20 Jahre, Mai) oder des österreichischen EU-Beitrittsreferendums (30 Jahre, Juni). Den 75. Jahrestag ihrer Gründung feiern die NATO (April), der Europarat (Mai) sowie die Bundesrepublik Deutschland (Mai). Zwei Jahrestage könnten auch das unter Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) eingeleitete Tauwetter zwischen Wien und Ankara fördern. Österreich und die Türkei feiern nämlich den 100 Jahrestag des in der Ersten Republik geschlossenen bilateralen Freundschaftsvertrags (Juni) sowie den 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens (Mai), mit dem der Zuzug von türkischen Gastarbeitern nach Österreich begonnen hat.