Britisches Unterhaus lehnte Austrittsdeal mit deutlicher Mehrheit ab.
Die britische Premierministerin Theresa May muss sich nach der herben Brexit-Niederlage im Parlament am Mittwoch einem Misstrauensvotum stellen. Oppositionschef Jeremy Corbyn hatte den Antrag unmittelbar nach der Ablehnung des mit Brüssel ausgehandelten Deals gestellt. Die EU bekräftigte indes ihr Nein zu Nachverhandlungen, die Vorbereitungen auf einen Austritt ohne Abkommen laufen.
Vor dem Misstrauensvotum muss sich May den Abgeordneten auch noch in der wöchentlichen Fragestunde stellen. Mit einer Abstimmung wird nach 20 Uhr (MEZ) gerechnet. Chancen, die Regierung zu stürzen, werden dem Vorstoß der Opposition nicht eingeräumt. Dazu bräuchte Corbyn die Unterstützung von Rebellen aus dem Regierungslager oder der nordirischen DUP, von deren Stimmen die konservative Minderheitsregierung abhängig ist. Dass eine der beiden Seiten Corbyns Antrag stützt, wird nicht erwartet.
May will Plan B vorlegen
May hatte von sich aus vorgeschlagen, sich dem Misstrauensvotum schon am Mittwoch zu stellen. Sollte die 62-jährige Premierministerin das Votum am Mittwochabend wie erwartet überstehen, wolle sie sich mit Vertretern aller Parteien treffen, um einen Ausweg zu suchen. Bereits am kommenden Montag wolle sie dem Parlament dann einen Plan B vorlegen, wie es nun konkret weitergehen soll. Einen Rücktritt lehnt May nach Angaben eines Sprechers ab.
Immer lauter werden unterdessen Rufe nach zweitem Referendum über den EU-Austritt. Der Nachrichtensender Sky berichtete am Abend, dass sich schon am Mittwoch "bis zu 100 Labour-Abgeordnete" offiziell für eine Volksabstimmung aussprechen werden. Auch aus den Reihen der Konservativen gab es Stimmen für ein Referendum.
Einem Insider zufolge erwägen britische Abgeordnete einen Antrag, um das Brexit-Verfahren nach EU-Artikel 50 zu verlängern. Regierungsminister hätten solche Planspiele für einen Brexit-Aufschub gegenüber Spitzenvertretern der Wirtschaft geäußert, sagte eine an den Gesprächen beteiligte Person am Dienstagabend gegenüber Reuters. May hat sich bisher strikt gegen eine Verschiebung des Austritts gestemmt.
Abgeordnete stimmten deutlich gegen Deal
Die Abgeordneten hatten den Brexit-Deal am Dienstagabend überraschend deutlich mit 432 zu 202 Stimmen durchfallen lassen. Der Ausgang war erwartet worden, weil auch viele Abgeordnete von Mays konservativer Partei gegen das Abkommen waren. Besonders umstritten war im Parlament die sogenannte Backstopp-Regelung, eine Notfall-Absicherung, die eine harte Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Land Irland verhindern soll.
Der Machtkampf zwischen der britischen Regierung und dem Parlament über den Brexit-Kurs dürfte sich nach den jüngsten Entwicklungen noch weiter verschärfen. Großbritannien will die Europäische Union am 29. März verlassen. Gibt es bis dahin keine Einigung, droht ein Austritt aus der Staatengemeinschaft ohne Abkommen. Für diesen Fall wird mit chaotischen Folgen für die Wirtschaft und viele andere Lebensbereiche gerechnet.
Die EU forderte unterdessen Klarheit von London. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker bedauerte den Ausgang des Votums. Das Risiko eines ungeordneten EU-Austritts des Landes sei damit gestiegen, sagte er. Man hoffe den Weg zu vermeiden, bereite sich aber darauf vor. Das Vereinigte Königreich müsse nun seine Absichten so bald wie möglich klar machen: "Die Zeit ist beinahe abgelaufen."
Tusk bot "einzige gute Lösung" an
EU-Ratspräsident Donald Tusk erklärte, dass die einzige gute Lösung für Großbritannien ein Verbleib in der EU sein könnte: "Wenn ein Abkommen unmöglich ist und keiner einen Austritt ohne Abkommen will, wer wird dann letztlich den Mut haben, zu sagen, was die einzige positive Lösung ist?"
Ausgeschlossen wurden seitens der EU-Staaten wie etwa von Corbyn angedachte Nachverhandlungen des Deals. "Es wird jedenfalls keine Nachverhandlungen geben", teilte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) der APA mit. Der Ball liege nun in London, äußerte Kurz die Hoffnung auf "mehr Klarheit seitens Großbritanniens, was das zukünftige Verhältnis zur EU betrifft". Nach Angaben von Außenministerin Karin Kneissl (FPÖ) ist Österreich auf "alle Szenarien" vorbereitet.
Ähnlich äußerten sich auch Regierungs- und Staatsoberhäupter aus anderen EU-Staaten wie Frankreich, Niederlande oder Dänemark. Viele Länder wie etwa Irland, Luxemburg oder Italien betonten in ihren Reaktionen, die Vorsichtsmaßnahmen für einen ungeordneten EU-Austritt Großbritanniens liefen auf Hochtouren. Aus Deutschland hieß es: "Wir sind vorbereitet."
Austrittschaos befürchtet
Austrittschaos befürchten gleichermaßen EU-Abgeordnete. Der sozialdemokratische Fraktionschef Udo Bullmann sagte vor einem Treffen mit dem EU-Brexit-Chefverhandler am Dienstagabend in Straßburg: "Die Briten sollen sagen, wie es weiter geht." Ebenfalls Sorgen äußerten Wirtschaftsvertreter und Finanzunternehmen einiger Länder.
An den Finanzmärkten hielten sich die Reaktionen in Grenzen. Das britische Pfund fiel kurz auf den tiefsten Stand des Tages, erholte sich anschließend aber schnell. Der Future auf den britischen Aktienmarkt-Leitindex FTSE 100 reduzierte etwas seine Gewinne. Eine anziehende Landeswährung kann Exporte in Länder außerhalb Großbritanniens erschweren. Der Dax-Future und der US-Leitindex Dow Jones Industrial in New York reagierten hingegen kaum.