Ukrainische Truppen wurden am Hauptplatz der Stadt von einer begeisterten Menge empfangen.
Die ukrainische Armee hat bei ihrer Gegenoffensive im Südosten der Ukraine einen bedeutenden Sieg errungen: Neun Monate nach Beginn des Krieges räumte die russische Armee am Freitag die strategisch wichtige Stadt Cherson und überließ das Feld den ukrainischen Streitkräften. "Cherson kehrt unter die Kontrolle der Ukraine zurück", erklärte das Verteidigungsministerium in Kiew.
Auch am Maidan in Kiew wurde die Befreiung Chersons gefeiert
Selenskyj: "Historischer Tag"
"Heute ist ein historischer Tag", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner Videoansprache am Freitagabend. Noch sei die Stadt nicht komplett von der "Präsenz des Feindes" befreit, erklärte er. Ukrainische Spezialeinheiten seien aber bereits vor Ort. Die Bewohner von Cherson entfernten zudem selbstständig russische Symbole von Straßen und Gebäuden.
Selenskyj veröffentlichte auch ein Video, das Autokorsos und Jubelchöre für die anrückenden ukrainischen Soldaten zeigen soll. "Die Menschen in Cherson haben gewartet. Sie haben die Ukraine nie aufgegeben", sagte der Staatschef. "Genauso wird es in den Städten sein, die noch auf unsere Rückeroberung warten."
Eine Vorhut der ukrainischen Streitkräfte hat unterdessen das westliche Ufer des Flusses Dnipro (Dnepr) in der Region Cherson erreicht. Das gibt der ukrainische Generalstab auf Facebook bekannt.
Mehr als 30.000 Russen abgezogen
Die russische Armee hatte den vollständigen Truppenabzug nach eigenen Angaben am frühen Freitagmorgen abgeschlossen. Um 05.00 Uhr (04.00 Uhr MEZ) sei "der Transfer russischer Soldaten ans linke Ufer des Flusses Dnipro beendet" gewesen, teilte das russische Verteidigungsministerium in einer in Online-Diensten veröffentlichten Erklärung mit. Demnach wurde "kein einziges Teil militärischer Ausrüstung und Waffen" auf der anderen Flussseite zurückgelassen. Die russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti veröffentlichte Aufnahmen von russischen Militärfahrzeugen, die Cherson über die Antonowski-Brücke verließen. Die russische Armee gab an, mehr als 30.000 Soldaten aus dem Norden der Region Cherson zurückgezogen zu haben.
Beim Rückzug auf das andere Flussufer seien viele russische Soldaten ertrunken, behauptete die Regionalverwaltung von Cherson. Dabei sollen sie auch die wichtige und zuletzt durch ukrainischen Beschuss schwer beschädigte Antoniwka-Brücke über den Fluss Dnipro gesprengt haben.
Kämpfe gehen weiter
Das ukrainische Verteidigungsministerium rief im Online-Dienst Facebook verbliebene russische Soldaten dazu auf, "sich augenblicklich zu ergeben". Die Rückzugsrouten der "russischen Invasoren" seien unter Feuer der ukrainischen Armee, erklärte Kiew weiter. "Jeder russische Soldat, der Widerstand leistet wird eliminiert." Wer sich ergebe werde jedoch am Leben gelassen, erklärte das Ministerium. Demnach hätten einige russische Soldaten den Befehl erhalten, sich als Zivilisten gekleidet in der Stadt zu verstecken.
Die ukrainische Regionalverwaltung warnt die Bevölkerung eindringlich davor, ihre Häuser zu verlassen, bevor ukrainische Truppen die Stadt vollständig eingenommen haben und die Suche nach möglicherweise zurückgelassenen russischen Truppen abgeschlossen sei. Örtlichen Berichten zufolge waren die ukrainischen Einheiten auch bereits in die Kleinstadt Beryslaw unweit des Kachowka-Staudamms eingerückt.
Kurz nach dem Abzug der eigenen Truppen aus der ukrainischen Gebietshauptstadt Cherson und weiteren Orten hat Russland eigenen Angaben zufolge mit Angriffen auf die gerade erst aufgegebene Region begonnen. "Aktuell werden Truppen und Militärtechnik der ukrainischen Streitkräfte auf dem rechten Ufer des Flusses Dnipro beschossen", teilte Russlands Verteidigungsministerium am Freitag mit.
Strategisch wichtige Region
Die Region Cherson ist seit Wochen Ziel der ukrainischen Gegenoffensive. Für Moskau ist die Region strategisch von großer Bedeutung, um die Offensive in Richtung Mykolajiw und zum Schwarzmeerhafen Odessa fortsetzen zu können. Darüber hinaus beherbergt Cherson den Kachowka-Staudamm, der die von Russland annektierte Halbinsel Krim mit Wasser versorgt.
Moskau sieht das ukrainische Gebiet Cherson auch nach dem Abzug seiner Truppen weiter als russisches Staatsgebiet an. Das Gebiet Cherson bleibe Teil der Russischen Föderation, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. "Dieser Status ist per Gesetz bestimmt und gefestigt. Hier gibt es keine Änderungen und kann es keine geben", sagte Peskow.
Russland hatte am Mittwoch den Truppenabzug aus der Gebietshauptstadt Cherson angekündigt, weil die Versorgung der eigenen Soldaten etwa durch nicht mehr nutzbare Brücken unmöglich geworden war. Seither melden die ukrainischen Streitkräfte ein schrittweises Vorrücken in der Region. Mehrere Ortschaften wurden demnach wieder befreit. Nach dem Scheitern des Vormarschs auf Kiew und dem Rückzug bei Charkiw gilt dies als weitere militärische Niederlage Russlands.
Niederlage für Putin nicht erniedrigend
Auf die Frage, ob die Niederlage in Cherson nicht erniedrigend sei für Putin, antwortete Peskow mit einem "Nein". Putin hatte Ende September vier ukrainische Gebiete, darunter Cherson, bei einer Zeremonie im Kreml vollmundig zu einem Teil Russlands erklärt. Peskow machte deutlich, dass der Kreml auch die Feier auf dem Roten Platz zur Einverleibung der Regionen nicht bereue. Die Weltgemeinschaft sieht in den Annexionen einen Völkerrechtsbruch.