Tausende mehr befürchtet

Bereits mehr als 22.000 Todesopfer durch Erdbeben in Türkei und Syrien

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Die Arbeit der Helfer im Erdbebengebiet in der Türkei und Syrien ist ein Rennen gegen die Zeit. Vier Tage nach den Beben ist die Zahl der Toten auf mehr als 22.000 gestiegen. Mehr als 74.000 Menschen erlitten Verletzungen.  

In der Türkei wurden bis Freitagnachmittag 18.991 Leichen gezählt, wie Präsident Recep Tayyip Erdogan mitteilte. Mehr als 74.000 Menschen erlitten Verletzungen. In Syrien meldeten die Behörden 3.300 Tote. Tausende mehr werden befürchtet.

Die USA haben nun millionenschwere Hilfen zugesichert, sowohl für den NATO-Partner Türkei als auch für Syrien. Außerdem wurden die Sanktionen gelockert, damit Erdbebenhilfe möglich ist. In Aleppo hat sich Machthaber Baschar al-Assad erstmals nach dem Unglück öffentlich präsentiert. Insgesamt sind nach Angaben der Vereinten Nationen gut 24,4 Millionen Menschen von der Katastrophe betroffen, die sich über ein etwa 450 Kilometer breites Gebiet erstreckt.

Hilfe aus dem Ausland

Aus dem Ausland rollte vier Tage nach dem Beben immer mehr Hilfe an. Mehr als 7.000 Helfer aus 61 Ländern seien in der Türkei, teilte das Außenministerium in Ankara am Freitag mit. Und obwohl noch immer Überlebende geborgen werden, scheint die Zeit für Wunder allmählich abzulaufen. Rettungskräfte - auch aus Österreich - arbeiteten rund um die Uhr, um im Wettlauf gegen die Zeit mögliche Überlebende in den Schuttbergen zu finden. Immer wieder hielten sie inne, riefen dazu auf, still zu sein, und horchten gespannt, ob vielleicht doch noch Lebenszeichen aus den Trümmerhaufen zu vernehmen waren. Manchmal mit Erfolg: Mehrere Menschen konnten auch am Freitag noch gerettet werden, darunter ein zehn Tage altes Baby.

Die Helfer zogen den Buben zusammen mit seiner Mutter im türkischen Bezirk Samandag aus einer Häuserruine. Die Augen weit aufgerissen, wurde das Baby eingewickelt in eine Wärmedecke in ein Feldhospital gebracht. Die Mutter, blass und benommen, aber bei Bewusstsein, wurde auf einer Trage in Sicherheit gebracht, wie auf Videoaufnahmen der türkischen Katastrophenschutzbehörde zu sehen ist.

Unweit entfernt konnte eine Siebenjährige nach 95 Stunden gerettet und ins Krankenhaus gebracht werden, wie die Agentur Anadolu meldete. Gar 100 Stunden, nachdem das erste Beben die Region am Montag erschüttert hatte, wurden in Diyarbakir eine 32-Jährige und ihr Sohn lebend geborgen. Im Krisengebiet kämpfen die Retter um jedes Leben. "Wir machen weiter, bis wir sicher sind, dass es keine Überlebenden mehr gibt", zitierte eine Reporterin des staatlichen türkischen Fernsehsenders TRT World am Freitagmorgen einen Sprecher der Einsatzkräfte.

Österreichisches Bundesheer konnte neun Menschen retten

In der schwer betroffenen Provinz Hatay ist auch das österreichische Bundesheer im Einsatz. "Auch wenn die Chancen geringer werden, wir suchen weiter und geben die Hoffnung nicht auf", sagte Einsatzleiter Bernhard Lindenberg am Freitag. Neun Menschen konnten durch die Spezialisten bisher aus den Trümmern befreit werden. Am Donnerstagabend konnten sie einen Mann aus einem Hohlraum bergen, in der Nacht auf Freitag wurde eine Familie mit einer Frau, zwei Männern und zwei Kinder aus einem verschütteten Verbindungsgang gerettet, in Zusammenarbeit mit lokalen Hilfskräften. "Es grenzt fast an ein kleines Wunder, fünf Personen jetzt noch lebend zu retten", sagte Einsatzleiter Bernhard Lindenberg im Gespräch mit der APA.

Erschwert werden die Rettungsarbeiten durch das eisige Wetter, das auch die Überlebenden bedroht, die in notdürftigen Unterkünften oder gar im Freien ausharren müssen. Die internationale Hilfe kam unterdessen immer mehr in Schwung. Die Weltbank sagte der Türkei 1,78 Milliarden Dollar (rund 1,66 Milliarden Euro) zu. Die USA kündigten ein erstes Hilfspaket in Höhe von 85 Millionen Dollar für die Türkei und Syrien an. Es gehe nun vor allem um Nahrungsmittel, Unterkünfte und medizinische Notversorgung.

Politische Situation in Syrien erschwert Arbeit

In Syrien kommt die politisch schwierige Situation hinzu: Das Katastrophengebiet in dem Bürgerkriegsland ist in von Damaskus kontrollierte Gebiete und Territorien unter der Kontrolle regierungsfeindlicher und überwiegend islamistischer Milizen geteilt. Viele Häuser waren wegen der jahrelangen Kampfhandlungen schon vor den Erdstößen beschädigt.

Assad geht in dem Bürgerkrieg, der 2011 ausbrach, brutal gegen die eigene Bevölkerung vor. Ihm werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit angelastet, darunter der Einsatz von Chemiewaffen. Seine Regierung beherrscht inzwischen wieder rund zwei Drittel des zersplitterten Landes - auch Aleppo. Andreas Knapp, Caritas-Generalsekretär für Auslandshilfe, reiste am Freitag ins Krisengebiet nach Aleppo. Im Gespräch mit der APA berichtete er von einem "Wechselbad der Gefühle" in der von der syrischen Regierung kontrollierten Stadt. "Die Angst der Menschen ist sehr groß", sagte Knapp. Die Lockerung der Sanktionen gegen Syrien gibt der Bevölkerung Hoffnung, ebenso das bessere Wetter, "es schneit und regnet nicht mehr", schilderte der Vorstandsvorsitzender der Stiftung Nachbar in Not und Generalsekretär für Internationale Programme der Caritas Österreich. In Aleppo selbst habe er sich die Zerstörung rein visuell größer vorgestellt, dennoch ist "praktisch jedes dritte Haus beschädigt". Mehrere Gebäude in der Stadt sind auch völlig zusammengebrochen. Die Menschen harren bei bitterkalten Temperaturen im Freien aus. "Die öffentlichen Flächen sind überfüllt, die Parks sind voll, auf den Bänken liegen Kinder und alte Menschen", berichtete Knapp. Vor allem am Abend werde es in den Notunterkünften eng.

Dem Welternährungsprogramm (WFP) gehen nach eigenen Angaben die Vorräte im Nordwesten Syriens aus. Um die Lager wieder auffüllen zu können, müssten weitere Übergänge an der Grenze zur Türkei geöffnet werden, fordert die für den Nahen Osten zuständige Managerin der Einrichtung der Vereinten Nationen, Corinne Fleischer, vor Journalisten in Genf. "Der Nordwesten Syriens, wo 90 Prozent der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, ist ein großes Problem. Wir haben die Menschen dort erreicht, aber wir müssen unsere Vorräte wieder auffüllen." Am Freitag trafen nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) 14 Lkw mit Hilfsgütern im Norden Syriens ein. Sie hatten unter anderem Heizgeräte, Zelte und Decken geladen.

In der Türkei sieht sich Präsident Erdogan mit immer größerer Wut der Bevölkerung konfrontiert. Viele werfen ihm und den Behörden vor, viel zu langsam und unzureichend auf die Katastrophe reagiert zu haben. Bei den im Mai anstehenden Wahlen könnte das eine entscheidende Rolle spielen, ob Erdogan sich im Amt hält. Der Präsident hat die Kritik zurückgewiesen. Am Freitag erklärte er bei einem Besuch im Katastrophengebiet, dass die Hilfe nicht so schnell geleistet werde, wie die Regierung dies gerne wolle. Zudem sagte er, dass einige Menschen Märkte ausraubten und Geschäfte angriffen. Der verhängte Ausnahmezustand werde es dem Staat ermöglichen, die nötigen Strafen zu verhängen.

Das Beben mit einer Stärke von 7,7 hatte am frühen Montagmorgen das Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei erschüttert und enorme Zerstörungen angerichtet. Montagmittag folgte ein weiteres Beben der Stärke 7,6 in derselben Region. 

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