Ministerpräsident sprach über den Tod von rund 14.000 Zivilisten.
Selbst nach fast neun Jahren im Ministerpräsidentenamt kann Recep Tayyip Erdogan die Türken immer noch überraschen. So wie an diesem Mittwoch, als er völlig unerwartet eine Rede vor Parteifreunden in Ankara zu einer Geste nutzte, die ein historisches Tabu hinwegfegte: Erdogan sprach über den Tod von rund 14.000 Zivilisten bei Massakern von Regierungstruppen in den 1930er Jahren im ostanatolischen Dersim, das heute Tunceli heißt.
"Wenn eine Entschuldigung im Namen des Staates fällig ist, dann entschuldige ich mich", sagte Erdogan. Die Erklärung wird als historisch gefeiert, doch dahinter steckt vor allem Parteipolitik - ähnliche Entschuldigungen bei Armeniern oder Griechen sind nicht zu erwarten.
Die Opfer der Massaker von Dersim waren vor allem alevitische Kurden; die Gegend ist ein Zentrum der Aleviten, Anhänger einer liberalen Strömung des Islam, die von der sunnitischen Mehrheit mit Misstrauen betrachtet wird. Im Kampf gegen einen angeblichen Aufstand alevitischer Clans in Dersim gingen die Regierungstruppen damals mit äußerster Brutalität vor, auch Giftgas wurde laut einigen historischen Dokumenten eingesetzt. Die Operation ging weit über eine Strafaktion hinaus: Frauen wurden vergewaltigt, Familien vertrieben, Kinder der Opfer auf sunnitische Familien verteilt.
Nicht nur wegen der staatlichen Brutalität wurde Dersim zu einem Tabu. Die Massaker von 1937 bis 1939 fanden teilweise unter der Präsidentschaft des 1938 gestorbenen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk statt, der in der offiziellen Ideologie der Türkei wie ein Halbgott verehrt wird. Kritik am Vorgehen des Staates in Dersim ist also auch Kritik an Atatürk, und das ist immer noch unerhört.
Erdogan räumte in seiner Erklärung mit mehreren Halbwahrheiten und Lügen auf. So hatte die Armee stets erklärt, es habe nur 7000 Todesopfer gegeben - Erdogan präsentierte Regierungsdokumente, in denen die Opferzahl mit 13.806 angegeben wurde. Mit weiteren Unterlagen wies er nach, dass Vertreibungen und Umsiedlungen nach den Massakern keine spontanen Aktionen waren, sondern auf Planungen der damaligen Regierung beruhten.