Prigoschin-Tod

Rache, Täuschung oder wirklich nur ein Unfall?

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Wie und warum das Flugzeug abgestürzt ist, in dem nach offiziellen russischen Angaben Jewgeni Prigoschin von Moskau nach St. Petersburg unterwegs war, bleibt unklar.  

Auch eine formelle Bestätigung, dass der Chef der Söldnergruppe Wagner tot ist, fehlte am Tag danach weiterhin. Aber unter Experten herrscht eine Überzeugung vor: Vieles deutet auf Rache des russischen Präsidenten Wladimir Putin hin.

Kaum jemand glaubt an Zufall

Mitarbeiter des russischen Ermittlungskomitees waren bereits wenige Stunden nach dem Vorfall an der Absturzstelle nahe der Großstadt Twer. Zunächst machte die mächtige Behörde aber keine Angaben zur möglichen Absturzursache. Ermittelt werde wegen eines Verstoßes gegen die Luftsicherheit, teilte sie mit. Weder der Kreml noch das Verteidigungsministerium in Moskau äußerten sich zu dem Absturz.

Video zum Thema: Wagner-Chef tot? Prigoschins Privatjet abgestürzt
 

In Onlinenetzwerken ließ sich indes eine bemerkenswerte Einigkeit zwischen russischen Oppositionsvertretern, Wagner-nahen Kanälen und westlichen Sicherheitsexperten beobachten: Sie alle glauben, dass Prigoschins Leben seit seinem am 24. Juni abgebrochenen Aufstand gegen die russische Armeeführung - und damit letztlich auch gegen Putin - nur noch an einem seidenen Faden hing. Und dass dieser Faden nun riss.

"Egal, was die Gründe für den Flugzeugabsturz sind, jeder wird darin einen Akt der Rache und Vergeltung sehen, und der Kreml wird dieser Sicht der Dinge nicht besonders energisch widersprechen", erklärte Tatjana Stanowaja, Gründerin der Politikberatungsfirma R. Politik.

Prigoschin-Jet abgestürzt
© TELEGRAM/ @grey_zone / AFP / APA
× Prigoschin-Jet abgestürzt
 

Die Wagner-Gruppe betreibt seit dem 26. Juni keine offiziellen Nutzerkonten mehr in Onlinenetzwerken. Den Söldnern nahestehende Nutzer verbreiteten aber die unbelegte Erklärung, das Flugzeug mit Prigoschin an Bord sei mit einer Boden-Luft-Rakete vom Typ S-300 abgeschossen worden.

Die Theorie verbreitete sich bereits Minuten nach Bekanntwerden des Absturzes. Der Telegram-Account Grey_Zone schrieb mit Blick auf ein angeblich den Absturz zeigendes Video von "weißen Spuren im Himmel", die "typisch für Luftabwehrgeschosse" seien. Die Nachrichtenagentur AFP konnte die Echtheit des Videos zunächst nicht bestätigten.

Auf anderen, ebenfalls nicht verifizierten Aufnahmen, soll die Maschine vom Typ Embraer 135 mit Prigoschin an Bord zu sehen sein, die in einer Spiralbewegung in Richtung Boden stürzt.

Selbst Margarita Simonjan, die Chefin des früher als Russia Today bekannten mächtigen russischen Staatssenders RT, erklärte öffentlich, sie tendiere zur "offensichtlicheren Variante" - womit sie eine Ermordung Prigoschins zu meinen schien.

Prigoschins prominente Mitreisende

Zehn Menschen befanden sich der offiziellen Passagierliste zufolge an Bord des Flugzeugs, alle von ihnen sind nach Angaben des Katastrophenschutzministeriums tot. Das Portal "Dossier", das dem früher einflussreichen russischen Geschäftsmann und im Exil lebenden Oppositionellen Michail Chodorkowski gehört, veröffentlichte Kurzporträts der mutmaßlich Verstorbenen.

Unter ihnen ist neben Prigoschin dessen Stellvertreter Dmitri Utkin, ein muskelbepackter Rechtsextremist. Utkin sei in der Kommandozentrale der Wagner-Miliz für die Ausbildung der Kämpfer verantwortlich gewesen. In "Dossier" heißt es, seine Befehle habe Utkin mit dem deutschen Wort "Sieg" unterschrieben, Prigoschin habe er mit "Heil Petrowitsch" angesprochen - eine Anspielung auf den in der NS-Zeit in Deutschland verpflichtenden Gruß "Heil Hitler".

Außerdem befand sich demnach an Bord der abgestürzten Maschine Waleri Tschekalow, der mit Prigoschin seit den 2000er-Jahren zusammenarbeitet hatte und einer der Leiter der von Prigoschin gegründeten Firma Concord war. Tschekalow war "Dossier" zufolge für alle zivilen Projekte Prigoschins verantwortlich: von geologischer Erkundung über Erdölförderung bis Landwirtschaft.

Putin und die kalt servierte Rache

Nach Ansicht unterschiedlicher Beobachter deutet vieles darauf hin, dass Putin persönlich hinter dem Absturz der Maschine mit Prigoschin steckt: dessen Wut angesichts des Wagner-Aufstands im Juni, seine früheren Morde an Regierungskritikern, das noch härtere Vorgehen der russischen Regierung seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine.

Chodorkowski schrieb auf Twitter (X) über Prigoschin: "Wäre Russland ein normaler Staat, hätte es wegen seiner Meuterei einen Prozess gegeben." Aber "in der Welt der Gangster, in der Putin sich bewegt", sei die Tötung von Gegnern die "einzige Art, die Dinge zu regeln". Chodorkowski fügte zu Prigoschin an: "Wer weiß, was er vor Gericht gesagt hätte (...)."

Samuel Ramani, Experte des britischen Forschungsinstituts RUSI, erinnert an den Hang Putins zur "zeitverzögerten Rache". Der ehemalige Spion Alexander Litwinenko und die Journalistin Anna Politkowskaja hätten ihre Kritik am Tschetschenien-Krieg Anfang der 2000er-Jahre geäußert, seien aber erst 2006 ermordet worden. Insofern sei Prigoschin "viel früher als üblich" zu Tode gekommen.

Offene Fragen bei der Mord-These

Es bleiben jedoch Fragen, die wohl auch dann offen bleiben würden, wenn Prigoschin tatsächlich einem Mordkomplott durch Putin zum Opfer gefallen sein sollte. Drei davon stellte Michael McFaul, ehemaliger US-Botschafter in Russland, auf Twitter (X) in den Raum: Warum habe Putin Prigoschin auf eine so spektakuläre Weise ermordet? Warum habe er ihm noch im Juli erlaubt, am Russland-Afrika-Gipfel teilzunehmen? Und: Warum werde es Wagner-Kämpfern jetzt erlaubt, in Onlinenetzwerken "offen über Rache zu sprechen"?
 

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