Schlagabtausch: ÖVP-Chef Kurz gegen Kapitänin. Interview: Rackete im Gespräch.
Retterin sagt, Europa müsse mehr Flüchtlinge aufnehmen – Sebastian Kurz strikt dagegen.
Wien. Dieses Interview schlägt hohe Wellen. In der Bild prophezeit die deutsche Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete (31), dass schon bald noch viel mehr Flüchtlinge über Nordafrika nach Europa kommen werden. „Wir müssen sie aufnehmen“, sagt sie (siehe rechts). Es werde bald einen neuen Fluchtgrund geben: das Klima. Dürren und Unwetter werden zum großen Problem.
„Chaos“. Sofort setzte ÖVP-Chef Sebastian Kurz – aus seinem Urlaub in den USA – zum Gegenschlag an: „Ich bin gegen die Aufnahme von Klimaflüchtlingen.“ Und weiter: „Offensichtlich haben manche gar nichts aus dem Chaos gelernt“ (siehe unten).
Festgenommen. Carola Rackete wurde Ende Juni weltweit bekannt, als sie mit einem Flüchtlingsschiff unerlaubt in den Hafen von Lampedusa fuhr und festgenommen wurde. Derzeit ist sie wieder frei. Das Interview gab sie in einem geheimen Versteck in den Alpen.
Interview im Versteck der Kapitänin
Video zum Thema:
Sea-Watch-Kapitänin Rackete im Interview
„Bild“-Reporter Paul Ronzheimer interviewte Carola Rackete an ihrem geheimen Versteck.
Frage: „Bild“ titelte über Sie: „Verbrecherin oder Vorbild?“ Was trifft auf Sie zu?
Carola Rackete: Wir haben rechtens gehandelt, davon bin ich überzeugt. Es gibt das maritime Gesetz, Menschen in Seenot zu retten. Das ist wie bei einem Autounfall, bei dem man helfen muss.
Frage: Nicht nur italienische Politiker sagen: Es war Rechtsbruch, in den Hafen zu fahren.
Rackete: Über einen Rechtsbruch wird die Justiz urteilen, ich sehe das anders und höre viele, die mir recht geben. Der Druck an Bord war immens, weil die Menschen einfach nicht mehr konnten. Deshalb mussten wir handeln.
Frage: Haben Sie durch Ihr Auftreten Salvinis Chancen massiv erhöht, bald italienischer Premier zu werden?
Rackete: Das Thema Seenotrettung polarisiert, aber wir wollen einfach nur Menschenleben retten. Der Rechtsruck findet schon lange statt.
Frage: Aber in der Mitte der Gesellschaft gibt es auch viele, die sagen: Europa kann nicht noch mehr Flüchtlinge aufnehmen!
Rackete: Asyl kennt keine Grenze! Momentan sprechen wir über sehr kleine Zahlen, aber die Situation wird eher schwieriger! Der Zusammenbruch des Klimasystems sorgt für Klima-Flüchtlinge, die wir dann aufnehmen müssen.
Frage: Ihnen wird vorgeworfen, dass durch die Seenotrettung die Menschen motiviert werden, auf die Boote zu gehen!
Rackete: Schauen Sie sich die Statistiken an, dafür gibt es keinerlei Belege. Die einzigen Zahlen, die klar sind, belegen: Es sterben mehr Menschen, wenn es weniger Rettungsboote auf dem Mittelmeer gibt.
Frage: Insgesamt ist die Zahl der Toten zurückgegangen.
Rackete: Ja, weil weniger losfahren. Die Menschen werden in Libyen in Gefängnissen gehalten oder in der Sahara gestoppt. Die EU bezahlt eine libysche Küstenwache, die in Menschenhandel verwickelt ist. Sie bringen die Flüchtlinge in Lager, in denen „KZ-ähnliche“-Zustände herrschen.
Frage: Was wurde den Flüchtlingen angetan?
Rackete: Da gibt es Leute, die wiederholt mit Wasser übergossen wurden, um dann Stromschläge zu bekommen. Es gibt Menschen, die sexuell ausgebeutet und als Sklaven gehalten wurden.
Frage: Werden Sie wieder an Bord gehen?
Rackete: Ich will im Umweltbereich arbeiten, aber wenn es den dringenden Bedarf gibt, dann kann das sein. Ich will erst mal das rechtliche Verfahren hinter mich bringen.
Frage: Was wollen Sie mit Ihrer Klage gegen Salvini erreichen?
Rackete: Ich finde, man darf sich nicht alles gefallen lassen. Er hat Unwahrheiten verbreitet und ich will, dass er diese Unwahrheiten bei Twitter und Facebook löschen muss. Und dass ein Richter ihm sagt: „So etwas dürfen Sie nie wieder behaupten!“
Video zum Thema:
Klima-Flüchtlinge: Kurz greift Rackete an
Nach Erscheinen des Interviews mit der Kapitänin kontert ÖVP-Chef Sebastian Kurz
„Ich bin gegen die Aufnahme von Klimaflüchtlingen in Europa. Einige NGOs haben utopische Ansichten. Die Debatte über die Aufnahme von Klimaflüchtlingen und die Verteilung in Europa führt zurück zu den Problemen aus 2015 und 2016. Offensichtlich haben manche gar nichts aus dem Chaos gelernt. Die Rettung aus dem Mittelmeer darf kein Ticket nach Mitteleuropa bedeuten. Europa muss Kurs halten im Kampf gegen illegale Migration. Nach der Rettung aus Seenot sind die Menschen an der EU-Außengrenze zu versorgen und von dort in ihre Herkunftsländer oder sichere Transitländer zurückzubringen. Parallel braucht es Initiativen in Afrika für Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung. Nur so zerschlagen wir nachhaltig das Geschäftsmodell der Schlepper und beenden das Ertrinken im Mittelmeer.“
© APA/HERBERT NEUBAUER